Vorwurf-Gegenschuss

Ein Ausblick auf den Vorwurf im Film

Michael Hack




Der Film ist, als Projektion, pro-iectio, nach vorne geworfenes, stets ein Vorwurf in seinem wörtlichen Sinne. Wenn hier von einem wörtlichen Sinn noch die Rede sein kann – denn die Frage nach der Textualität des Films ist stets offen, wenn vom Film die Rede ist.

Jean-Luc Godard, enfant prodige der Nouvelle Vague, der seine Laufbahn als Kritiker beginnt, setzt mit seinem filmischen Werk die Reflexion über Kino fort, die er in der schriftlichen Form begonnen hat. Dass er Kritiken schrieb, wie andere Filme machen, ist mittlerweile zum Allgemeinplatz geworden. Dass er später auch Filme machte, wie andere Kritiken schreiben (sollten, aber nicht können), ist der Umkehrschluss. Das gilt nicht erst für sein Spätwerk, das hierzulande leider kaum Beachtung findet. Schon in seinen Werken der 60er Jahre, von ihm selbst später zu Unrecht in den Schatten gestellt, legt er kinematografische Funktionsmuster offen.

Eine der großartigsten und auch lustigsten Szenen dieser Schaffensperiode findet sich im Film „Une Femme est une femme“ aus dem Jahr 1961. Jean-Claude Brialy und Anna Karina spielen ein Paar, das sich eigentlich liebt, aber in dem Moment aus dem Gleichgewicht gerät, als sie unbedingt ein Kind haben will – und zwar augenblicklich –, er ihr die Erfüllung dieses Wunschs aber hartnäckig verweigert. Die beiden finden sich im Bett nebeneinander wieder, nachdem sie verabredet haben, nicht mehr miteinander zu sprechen.

Diese Verabredung halten beide ein; dem Drang aber, dem jeweils anderen ihren Zorn mitzuteilen, geben sie nach. Anna Karina steht also auf, nimmt die Stehlampe, geht zum Bücherregal, holt ein Buch hervor, geht zum Bett zurück, deckt einen Teil des Umschlags ab. Schnitt: Der freigestellte Schriftzug „Monstre“ in Großaufnahme. Er wird Jean-Claude Brialy gezeigt, und damit auch uns.

Ein Vorwurf wird gemacht. Das heißt: Er wird gezeigt. Karina und Brialy wollten die Krise ihrer Beziehung durch den Abbruch der sprachlichen Verständigung dokumentieren. Und doch sind sie noch im gleichen Rahmen zu sehen. Der Bildkader schließt die beiden Elemente, die sich heterogen wollen, zusammen: „Une histoire de bêtes“ wird Serge Daney in Anspielung auf Bazins „Montage Interdit“ diese Situation nennen. Anna Karina will dieser Einsperrung entgehen. Zuerst dadurch, dass sie das Licht löscht. Man sieht nur einen schwarzen Bildschirm, das Verhältnis der beiden ist suspendiert. Das Licht geht erst wieder an, als Karina den gemeinsamen Bildkader zu verlassen ansetzt. Sie kehrt zurück, um ihre Abtrennung weiter zu demonstrieren. Anna Glazova schreibt in diesem Heft über den Vorwurf bei Musil (und in der erzählenden Literatur im weiteren Sinne): „Derjenige, der vorwirft, droht dem Anderen mit der Vereinzelung, indem er sich als unabhängig vom Anderen erklärt.“ Genau dies versucht Karina, indem sie Brialy das Cover entgegenhält. Sie verlässt zunächst die Kommunikationsebene der gesprochenen Sprache. Sie sagt es nicht, sie zeigt es; im Film freilich ändert das an der Struktur des Vorwurfes nichts. Sprache, auch wenn sie nicht gesprochen wird, bleibt immer noch Sprache, Bildsprache, wenn man so will. Auch wenn Anna Karina, so könnte man es vielleicht sagen, die Falle des Vorwurfes, der stets im Trennen vereint, mit den Mitteln des Kinos zu umgehen versucht, so geht sie doch in die andere Falle, die des filmischen Vorwurfs.

„Der Vorwurf erzeugt eine Spaltung, die nur solange eine Spaltung bleibt, wie sie die Gemeinsamkeit erhält“, schreibt Anna Glazova weiter. Der Vorwurfscharakter des Films (des montierten zumindest, und damit eigentlich des gesamten Erzählkinos) wird hier sichtbar. Die Einstellung auf das Cover „Monstre“ trennt die beiden Figuren und vereint sie doch wieder, denn eine Einstellung, darauf hat Deleuze hingewiesen, ist immer ein „changement du tout“, sie trennt das, was vorher kommt und das, was ihr folgt und ist doch notwendiger Teil des Gesamten, die das Zeitkontinuum des Films überhaupt erst entstehen lässt, der, so Deleuze, „la conversion perpetuelle“ bewerkstelligt. Jede Einstellung ist der Vorwurf der vorhergehenden an die kommende könnte man vielleicht sagen. Projekt, Idee, utopisches Moment auf der einen Seite, da sie eine Zeit schafft, die noch realisiert werden muss. „Reproach“, Anschuldigung, weil sie zwei Dinge voneinander trennt, die doch eigentlich zusammengehören (und in „Une femme est une femme“, wie sich das für eine Komödie gehört, schließlich auch zusammenfinden).






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