Forwurv

Adrian Giacomelli



Spekulationen


Der Vorwurf ist sprachliche Gewalt, er will verletzen, mit Worten – Worten, die keine Worte sind, sondern Waffen: Vorwürfe sind vor allem Lanzenwürfe; Sätze und Worte genährt aus einer unausgesprochenen Frustration. Stets in einem Heer von Spekulationen treibend, schwanger an Hintergedanken und Vorurteilen, wirft sich der Vorwurf an die Brust seines Gegners. Doch wie verhält sich der Angeworfene (‚Anwurf’ ist nach dem Grimmschen Wörterbuch ein Synonym dieses ‚Vorwurfs’) und wie kann er den Würfen ausweichen? Es ist ja wenig sinnvoll auf den sprachlichen Gehalt des Vorwurfs einzugehen, entspringt er doch einem tiefer liegenden psychologischen Komplex: –„Ja, du, du riskierst ja immer alles. Alles, was dir einfällt, das tust du.“, –„Soll das ein Vorwurf sein?“, –„O nein, ich beneide dich darum.“ Wer hier vorwirft, sich dann aber wieder zurückzieht, ist Olivier Molinier aus Gides Falschmünzern. Sein Freund Bernard hat ganz richtig erkannt, dass man hier versucht, ihm einen Vorwurf zu machen, weshalb er auch nicht weiter darauf eingeht, sondern ausweichend fragt „Soll das ein Vorwurf sein?“ und das Gespräch gleichsam eine Ebene höher schraubt. Daraufhin zieht Olivier den Vorwurf zurück und gesteht, bloß neidisch zu sein. Es war also der Neid, der hier jenen Vorwurfversuch verursachte – ein Satz, den trüben Tiefen menschlichen Empfindens entwichen. Der Vorwurf übersetzt, er übersetzt ein Gefühl von Schwäche, Neid etc. in Sprache – inklusive aller Abweichungen, die eine Übersetzung vom Original aufweist. Dabei zeigt sich die Schwäche doppelt: Erstens als Gefühl, zweitens als Schwäche die Schwäche auszusprechen. Stattdessen wird ein Vorwurf formuliert, sozusagen als ein sprachlicher Schutz- und Deckmantel. Der Vorwurf wird lanziert, für den Werfer vielleicht noch ergründbar – für den Angeworfenen nahezu unmöglich auszulegen. Schon allein deshalb, weil sein semantischer Gehalt von frappierender Belanglosigkeit ist, je belangloser eigentlich, desto frappierender noch für sein Gegenüber. Von tiefem Frust genährt, sucht der Vorwerfende seinen Gegenüber ebenfalls zu verletzen und das emotionale Gefüge zu zerreißen. Er oszilliert zwischen Sprache und Effekt. Anders als Werbeslogans zum Beispiel, die ebenso den Effekt suchen, aber einen anhaltenden memorierbaren Effekt, ist der Vorwurf auf eine Zeitspanne beschränkt, die nicht länger währt, als seine Artikulation. Bereits die Replik auf den Vorwurf, ebenfalls vorwerfend, zurückwerfend, ist kaum Replik, sondern vielmehr der Versuch zurückzuschlagen, eine weitere Wunde zu reißen. (Im Hintergrund sieht man schon die Gewaltspirale aufflammen.)
Wie wird hier also gesprochen? Insofern der Vorwurf durch emotionalen Druck zur Sprache kommt, ist er eine Art von Rede, die nicht um der Rede willen entsteht, um einer Aussage willen – was immer das heißen mag, angesichts diesen Umstands, auch ohne etwas auszusagen, trotzdem Aussagen machen zu können –, sondern aus einem andern Grund, jedoch aus einem, dem man der Rede nicht ablauschen kann, die redet und auch nicht redet, die redet, aber keinen Wert auf den bedeutenden Charakter der Rede legt, die als Rede bloß Geste ist, Reden als Gesten.

In zwischenmenschlichen Beziehungen jedoch hat der Vorwurf die wahrscheinlich noch geringste Bedeutung. Wichtig wird er dort, wo er kontrolliert, instrumentalisiert, gezielt und systematisch eingesetzt wird. Zum Beispiel in der Politik. Zum Beispiel in künstlerischen Manifesten (Was wären die Surrealisten gewesen ohne ihre Manifeste, die immer wieder aufs neue, in Vorwürfen vor allem, ihre Andersheit betonten.). Aber auch in der Philosophie. Auch hier ist nicht etwa der semantische Teil des Vorwurfs von Belang, sondern die Geste. Interessant aber ist zu sehen, wie er als ein rhetorisches Mittel eingesetzt wird. Denn er ist wohl das rhetorische Mittel, um sich abzugrenzen, um Raum zu schaffen und um so differenzierter für die eigene Sache eintreten zu können – für die eigenen Ideen, Ideologien und Pläne, und um so der Gefahr zu entgehen, für andere zu sprechen, die vielleicht, ja man kann sogar davon ausgehen, dieselbe Sache verfolgen. Der Vorwurf wird da sichtbar, wo immer Individualisierung und ein Kontrast zu einer anderen Partei gesucht wird. Er ist immer ein Original gewesen. Das soll absolut kein Vorwurf sein. Wozu dieser mildernde Nachtrag von Edouard ( Die Falschmünzer)? Eben weil dies ein Vorwurf ist –: weil Originalität der Vorwurf schlechthin ist, weil Originalität und Individualität einem Vorwurf gleichkommen. Ich als Individuum stehe meinem Mitmenschen schon als Vorwurf gegenüber.



Der gelehrte Vorwurf


Die Wörter ‚Vorwurf’ und ‚Kritik’ teilen ein ähnliches Schicksal, oder besser noch: beide teilt ein ähnliches Schicksal. Beide ehemals Inbegriffe einer objektiven, einer objektivierenden Betrachtungsweise, Inbegriffe von Wissenschaftlichkeit, sehen sich mittlerweile dem Vorwurf – oder der Kritik – ausgesetzt, nicht objektiv zu verfahren, sondern von Meinungen, Stimmungen, Vorurteilen belastet zu sein. Dass der Vorwurf aber nicht immer der war, den man heute kennt und den die wenigsten vielleicht noch als einen anderen kennen, davon weiß das Grimmsche Wörterbuch zu berichten. Ursprünglich meint der Vorwurf nicht (An-)Klage, Schmähung, Tadel etc., sondern schlicht ‚Gegenstand’. Entstanden als mittelhochdeutsche Lehnübersetzung des lateinischen objectum, bedeutete er ‚das Vorliegende’: ‚das vor die sinne geworfene’ und damit dem subjekt ‚gegenüberstehende’, wie objekt < oculo obiectum und griech. προβλημα, worauf das lateinische zurückgeht (Grimmsches WB, Artikel ‚Vorwurf’). Später erst, im Frühneuhochdeutschen, entsteht zusätzlich ein weiterer, ein erweiternder Vorwurf als Nominalbildung zum Verb ‚vorwerfen’. (Interessant ist hier die Reihe von Übersetzungen in der Etymologie des ‚Vorwurfs’, einmal lehnübersetzt aus dem Latein, ein weiteres Mal als innergrammtische Übersetzung von Verb zu Nomen.)
Gegenstand einerseits, Anklage andererseits – ein Verhältnis, wie dasjenige zwischen Subjekt, auch ‚Satzgegenstand’ genannt, und Akkusativobjekt. Ein Verhältnis, das allein schon dem Akkusativ innewohnt: das Verb ‚accusare’ leitet sich aus dem Wort ‚causa’ ab. Auch hier, der scheinbar neutrale Fall, die Sache, der Gegenstand, der sich hier allerdings nicht nur, wie im ‚Vorwurf’, mit der Anklage, wie auch immer zufällig, kreuzt, sondern diese erst sprießen läßt, erst sprechen läßt, ihr erst Raum und Boden gibt. Auf diesen unserem deutschen Fall gar nicht unähnlichen Umstand verweist Michel Serres in seinem Buch Der Hermaphrodit und strickt aus dieser causa etymologica selbst eine accusa: bereitwillig verwandeln sich die Medien und die Universität in Gerichtssäle, wo man über die Sachen, choses, und Ursachen, Fälle, causes, debattiert – das ewig jüngste Gericht, die letzte Instanz.
Der Vorwurf ist durchzogen von einer Gerichtsatmospähre, bezeichnet in seinem Gesamtbedeutungsumkreis das Verhältnis zwischen der Akte und dem Ankläger, der Akte, die dann mit einigen §-Zeichen versehen die Anklageschrift darstellt.
Die Anklage-schrift, die Schrift der Anklage ... Schrift ist, man nehme diese Zeile zum Beispiel, Abgrenzung. Schrift ist, farblich oder anders, von ihrem Untergrund und ihrer Umgebung abgehoben, zeichnet sich im Verhältnis zu ihrer Umgebung durch Andersheit aus – zieht, indem sie übers Papier hinwegzieht, die Grenzen, innerhalb derer sie, ihre Umgebung gleichsam kolonialisierend, herrscht; und dies, noch bevor sie Ausdruck, Inhalt, Form, Schönschrift, Kalligraphie ist – graphie, graphein:      (ein-) ritzen, schreiben, malen, wie ebenfalls nach Gemoll, eine schriftliche Klage einbringen – und ho graphamenos ist der Ankläger.

Die Schrift ist dasjenige, das trennt, das die Gegenüberstellung, die Konfrontation sucht, ja benötigt um kenntlich zu sein. Sie trennt Papier von Papier oder Stein von Stein, Grammatik von Grammatiklosigkeit, Gesetz von Gesetzeslosigkeit. Die Schrift unterwirft das wilde gesetzeslose, ungesetzte (der Setzkasten des Druckers als Gesetzkasten) Papier ihrer Grammatik; die Anklageschrift unterwirft den Angeklagten dem Gesetzesbuch, am Verurteilten erstellt das Gesetz sein Exempel, der Verurteilte ist das Vorzeigeobjekt der Gesetzesmacht... auf dem beschriebenen Papier lässt sich die ganze Grammatik einer Sprache ablesen: Nomen und Substantive, Fälle, Konjugationen und Deklinationen, Neben- und Hauptsätze, Motiv, Konjunktionen, Subjekt, Verb, Tuwort, Tat, Täter, Adjektiv, Kausalsätze, Begründung, Fragewörter, adverbiale Bestimmungen der Zeit und des Ortes, Aussage, Ursache, Hilfsverben ... Papier, Wachstafel, Stoff und Leder, Steine aller Art – die Grammatik weiß mit allen Härten und mit allen Fällen umzugehen; aus ihr könnten noch unzählige Codizes, Verfassungen und Gesetzbücher hervorgehen. Als Herrin deckt die Sprache alle Bedürfnisse (!): So hält es auch die Tyrannei. (H.Michaux, Von Sprachen und Schriften, Graz-Wien, 1998.) Die Grammatik macht sich ihren Gegenstand zu eigen, welcher Art er auch sein mag, jeder Gegenstand, jeder Vorwurf, ist ihr von vornherein unterlegen, ist der je ihrige. Das Gesetz ist nicht das letzte Gesetz, ihm überlegen ist das Gesetz der Grammatik, die Grammatik. Fragt man sich weshalb es Gesetze gibt: Gesetze als Nachahmung, als plumpe Nachahmung dessen, woraus sie gemacht sind, als größenwahnsinniger Höhenflug der Grammatik, Gesetze als die Grammatiktreue überhaupt. Gegen das Gesetz verstoßen, heißt zunächst gegen die Grammatik, in der die Gesetze geschrieben stehen, zu verstoßen; die Rechtschreibübungen in den Schulen sind ja gleichzeitig Übungen in Gesetzestreue. (vgl. Foucaults Überwachen und Strafen)


Kafkas Maulwurf


Der Vorwurf im Sinne von Gegenstand gegenüber dem Vorwurf als An-, Klage, beide vereint unter denselben Buchstaben, haben sie ein Verhältnis mit- und zueinander? Und ist der neutrale Fall tatsächlich so neutral, oder, indem er Ursache, causa, einer Anklage ist, auch immer zu einer Anklage wachsen kann, mehr als nur eine mögliche Anklage, nämlich schon eine Klage, die sich Gehör verschaffen will?
In Kafkas unvollendeter Erzählung Der Dorfschullehrer (in Brod-Ausgaben unter dem Titel Der Riesenmaulwurf zu finden) haben sie ein Verhältnis zueinander. Darin zieht die Entdeckung eines riesigen Maulwurfes eine Kette von Vorwürfen mit sich, oder vorwurfsvoller ausgedrückt: Die Entdeckung eines Maulwurfes wird Vorwurf mehrerer Vorwürfe, die wiederum weiteren Vorwürfen als Vorwurf dienen. Kafka bricht die Arbeit an der Erzählung denn auch mit zwei Vorwürfen an sie und einen an sich ab. Am 26. Dezember 1914 schreibt Kafka in sein Tagebuch: Heute abend fast nichts geschrieben und vielleicht nicht mehr imstande den Dorfschullehrer fortzusetzen, an dem ich jetzt eine Woche arbeite und den ich gewiß in 3 freien Nächten rein und ohne äußerliche Fehler fertiggebracht hätte, jetzt hat er trotzdem er noch am Anfang ist, schon zwei unheilbare Fehler in sich und ist außerdem verkümmert, und knapp zwei Wochen später, am 6. Januar 1915: Dorfschullehrer und Unterstaatsanwalt vorläufig aufgegeben. Es scheint das Schicksal des Vorwurfs zu sein, worüber Kafka ja auch zu schreiben gedachte, dem er sich aber letztendlich auch nicht entziehen konnte, stets zu neuen Vorwürfen Anlass zu geben – als ob die adäquate Antwort auf einen Vorwurf wiederum nur ein Vorwurf sein kann. In der Animalifikation – von Personifikation kann hier nicht die Rede sein – des Vorwurfs im Maulwurf geht Kafka jedoch weiter. Er legt damit den Vorwurf mitten ins Zentrum der Sprache: in den Mund, ins Maul. ‚Maulwurf’ läßt sich auch lesen als ‚Wurf des Mauls’ oder ‚Maul des Wurfs’, ‚Maul des Werfens’. Und wohin sollte es werfen, wenn nicht vors Maul? Und was macht das Maul anderes, das je schon ein werfendes Maul ist, als vor-werfen?







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