Im Jahr 2000 plante das New
York Times Magazine einen Bericht über unschuldig
Verurteilte in den USA zu veröffentlichen und man beauftragte
Taryn Simon, die Bilder zu diesem Artikel zu liefern. Doch auch nach
der Publikation verfolgte das Thema sie weiterhin und die Fotografin
unternahm Reisen durch ganz Amerika, um Menschen zu fotografieren und
mit ihnen zu sprechen, die einen langen Zeitraum ihres Lebens im
Gefängnis verbrachten, obwohl sie mit der ihnen vorgeworfenen
Tat nichts zu tun hatten. Dadurch entstand The Innocents. Hier
begegnet der Betrachter einem Panorama der amerikanischen Gesellschaft,
da Simon Menschen aufnahm, die unterschiedlicher Hautfarbe sind und aus
unterschiedlichen Einkommensklassen stammen.
Worauf kommt es Taryn Simon in dieser Arbeit an? In ihrem Vorwort
schreibt sie: Das
Rechtssystem hat versäumt, die Begrenzungen im Vertrauen auf
fotografische Bilder zu erkennen. Bei den meisten
Festnahmen stützte sich die Polizei nämlich auf
Fotografien, auf denen die Opfer glaubten, ihre Täter zu
erkennen. Bei der direkten Gegenüberstellung erkannten sie
dann nur den Menschen auf der Fotografie wieder und glaubten, es sei
ihr Täter. Dieses
Projekt, so Simon, macht
auf die Konsequenz aufmerksam, die Grenzen der Fotografie zu ignorieren.
Sie hat die Menschen an Orten aufgenommen, die in Verbindung mit der
Tat stehen. Es handelt sich dabei entweder um den Ort der Verhaftung,
des Alibis oder den Tatort selbst. Ein Bild kann für Simon nur
aus seiner Geschichte und dem Zusammenhang heraus verstanden werden, in
dem es gemacht wurde. Darum wird jedes Bild durch einen Text
ergänzt, der in sachlichem Ton den Hergang der Tat, den
Verlauf des Prozesses und die Mittel beschreibt, wodurch der
Verurteilte seine Unschuld beweisen konnte. Sie lässt aber
auch die Unschuldigen zu Wort kommen, die erzählen, wie die
Verurteilung ihr Leben verändert hat. So kann der Betrachter
verfolgen, wie sich Fiktion in Wirklichkeit verwandelt, die sich in den
Gesichtern der Porträtierten widerspiegelt.
Simons Arbeit ist nicht nur eine künstlerische, sondern vor
allem auch eine politische, sind doch viele ihrer Abgebildeten zum Tode
verurteilt worden. Damit berührt sie eines der umstrittensten
Themen der amerikanischen Gesellschaft, da die Todesstrafe immer mehr
in Frage gestellt wird. Ihre Bilder spielen eine wichtige Rolle im
Bewusstseinswandel der Amerikaner.
In einem Amazon-Kommentar zu Simons Arbeit schreibt Andrea Dunlap: The Innocents verleiht den
Statistiken Gesichter und Geschichten und dient als fesselnde
Dokumentation eines nationalen Problems. Doch diese
Geschichten können nur im Ansatz erzählt werden; die
Bilder regen die Einbildungskraft des Betrachters an und lassen das
unvorstellbare Ausmaß des Horrors erahnen, den die Innocents
seit ihrer Verurteilung und noch weit darüber hinaus
durchleben.
Zunächst einmal hat man es bei The Innocents mit einem sehr
poetischen Werk zu tun. Simon fotografiert an Orten, die etwas
Geheimnisvolles ausstrahlen. Die Menschen wirken isoliert und
vereinsamt als befände sich meilenweit kein anderes
menschliches Wesen. Auch wenn sie direkt in die Kamera blicken,
scheinen sie mit etwas beschäftigt, womit sie nicht fertig
werden. Simon schreibt dazu: Ein
Ort, der die Existenzen der Unschuldigen für immer
veränderte, obwohl sie niemals dort gewesen sind.
Höchstwahrscheinlich stehen sie zum ersten Mal an diesem Ort,
der ihr Schicksal verändert hat, und es war Simon, die sie
dort hingebracht hat. Als Betrachter wird man Zeuge dieser erstmaligen
Konfrontation. Auf der einen Seite haben wir diese befremdende
Schönheit der Orte und auf der anderen diese gezeichneten
Gesichter, deren Geschichte wir durch die beigefügten Texte im
Ansatz kennenlernen. Vielleicht liegt das Poetische dieser Bilder in
diesem Kontrast. Doch diese Poesie kostet einen hohen Preis. Ist hier
doch nicht nur den Unschuldigen, sondern auch den Opfern, meist
vergewaltigte Frauen, Unaussprechliches zugestoßen.
Taryn Simon reflektiert in ihrer Arbeit unseren Umgang mit Bildern. Die
beigefügten Texte bringen ihr Misstrauen gegenüber
ihrem eigentlichen Metier, der Fotografie, zum Ausdruck.
Wir vertrauen Bildern oft blind und diesen Glauben stellt Simon radikal
in Frage. Wir lesen etwas in sie hinein, was nicht in ihnen steht.
Nachdem man dann die Texte gelesen hat, sieht man die Bilder aus einer
anderen Perspektive. Es ist wie bei einem Puzzle. Auch der Text
fließt mit ins Bild, nicht ergänzend, sondern
vervollständigend.
Dabei sind Simons Bilder selbst auch wieder Konstruktionen. Ihre Arbeit
ist von einem extremen Aufwand an Technik geprägt, leuchtet
sie doch die Orte minutiös aus und überlässt
nichts dem Zufall. Sie beherrscht ihr Handwerk und vielleicht steckt
darin gerade ihre Kunst.
Darum sind diese Bilder nicht in erster Linie in Zeitungen und
Magazinen zu finden, mag deren Ansatz auch journalistisch sein, sondern
vor allem im Ausstellungsraum.
Wenn eine schreckliche Tat begangen wurde, ist der Wunsch nach
Vergeltung groß. Manchmal geht dieser Wunsch über
Leichen. Die Texte in Simons Buch erzählen von dem Zwang und
der Besessenheit der amerikanischen Behörden, einen Schuldigen
zu finden. Beispielsweise schreckt die Polizei im Fall Larry Mayes
nicht davor zurück, das Opfer gar zu hypnotisieren, um einen
Anhaltspunkt zu erhalten. Und obwohl mehrere Zeugen belegen
können, dass sich Tim Durham während der Tatzeit in
einem ganz anderen Bundesstaat aufhielt, wird er für schuldig
befunden. Im Verlaufe der Beschäftigung mit diesem Werke
drängt sich der zynische Eindruck auf, dass man lieber einen
Unschuldigen verurteilt, als gar keinen Schuldigen vorzuzeigen. Simons
Arbeit lehrt uns, noch sorgfältiger mit Beweisen umzugehen und
nicht durch blinde Wut getrieben einen vorgeblich Schuldigen zu finden.
Dabei werden die erst seit kurzem vor Gericht als Beweismaterial
gestatteten DNA-Proben immer wichtiger, da sich mit ihrer Hilfe die
Schuld oder Unschuld eines Angeklagten einwandfrei feststellen
lässt. Das Schicksal eines Menschen hängt in allen
hier vorgestellten Fällen von einer Haar- oder Samenprobe ab.
Auch in ihrer zweiten großen Arbeit An American Index of the Hidden
and Unfamiliar setzt Simon ihre kritische
Beschäftigung mit der amerikanischen Gesellschaft fort. Bei
ihr ist das Bild nie nur als Bild zu verstehen. Es
repräsentiert nicht im dekorativen, sondern in einem
politisch-sozialen Sinne. In jeder Fotografie von The Innocents
werden wir durch den Anblick der Unschuldigen auf den Zusammenhang
zwischen Bürger, Rechtssystem und Staat aufmerksam gemacht.
Doch die Bilder gewähren dem Betrachter auch einen ganz
persönlichen Zugang zu den ehemals Verurteilten. Man lernt
dabei schwer Traumatisierte kennen, die trotz ihrer Freilassung nicht
von ihrer unbegangenen Tat loskommen. Sie wurden jahrelang als die
wahren Täter grauenvoller Verbrechen abgestempelt und jeder
sah in ihnen, wofür sie zu unrecht verurteilt worden waren.
Wie Schatten ihrer selbst wirken diese Menschen an den Orten, wo Simon
sie fotografiert hat. Viele sprechen in den mit Simon
geführten Interviews über ihre Angst, wieder
verhaftet zu werden. Sie haben sich in ihre vier Wände
verschanzt und das Vertrauen in ihre Mitmenschen und die staatlichen
Behörden verloren. Ihr Leben hat sich in ein
Gefängnis ohne Mauern verwandelt.
Die Bilder von Taryn Simon brennen sich ins Gedächtnis des
Betrachters ein. Trotz ihrer poetischen Kraft verstören sie
mehr als sie erfreuen. Simon entpuppt sich bei The Innocents als
große Erzählerin. Doch kann jedes Foto nur der
Anfang einer Geschichte abbilden, ihre Fortsetzung, und damit
erfüllt sie die Eigenschaft eines jeden großen
Kunstwerks, erfolgt im Kopf des Betrachters.
Der zweite Teil dieses Aufsatzes beschäftigt sich mit Simons
Arbeit An American
Index of the Hidden and Unfamiliar, die im Anschluss an The Innocents
entstanden ist. Dieses Werk verwirklichte sie im Zeitraum von 2003 bis
2007 und alle Bilder sind in den Vereinigten Staaten gemacht worden.
Simons Index
umfasst viele verschiedene Bereiche der heutigen Gesellschaft. Sie
verschafft dem Betrachter einen Einblick in unterschiedliche staatliche
Einrichtungen, sie stellt eigenartige religiöse Gemeinden vor,
sie betritt medizinische und militärische Felder,
hält bizarre Landschaften fest, setzt sich mit der
Unterhaltungsindustrie auseinander und selbst vor dem Reich der Tiere
macht ihr Objektiv nicht halt. Einige der Einrichtungen tragen eine
große Verantwortung für die gesamte Menschheit auf
ihren Schultern. So zum Beispiel das U.S. Department of Energy, das
für die Verkapselung und Einlagerung von Atommüll
zuständig ist. Simons zeigt einige der 1.936 blau glimmenden
Atommüllbehälter, die in einem Wasserbecken gelagert
werden. In ihrem Umriss erinnern sie an den Küstenverlauf der
USA. Befände sich ein Mensch weniger als 30 cm von einem nicht
abgedeckten Behälter entfernt, wäre er innerhalb von
zehn Sekunden einer tödlichen Strahlung ausgeliefert.
Simons Bilder offenbaren einem die verborgenen Seiten der Gesellschaft,
sozusagen dasjenige, was hinter den Kulissen geschieht, aber unseren
Alltag in hohem Maße regelt. Auf einem ihrer Bilder ist
bloß eine Leiter zu sehen, die vor einer weißen
Wand steht. Doch außer zwei orangenen Kabeln, die an der
Halterung befestigt sind, sieht man nichts. Erst durch den
beigefügten Text, der jedes ihrer Bilder begleitet,
erfährt man, dass die Kabel den gesamten Atlantik
überbrücken, um den Verkehr von über 60
Millionen gleichzeitig geführten Gesprächen zu
garantieren.
Auf den ersten Blick haben die einzelnen Bilder nichts miteinander zu
tun, jedes steht für sich, doch da kein einziges von ihnen
genau datiert ist, wird der Seriencharakter und der Sinnzusammenhang
der Arbeit unterstrichen.
Die Fotografin betreibt einen großen Aufwand, damit ihre
Bilder entstehen können. Zunächst müssen die
Motive ausgewählt (was meist über das Internet
geschah) und eine Erlaubnis eingeholt werden. Manchmal haben sich die
Anfragen über Jahre hingezogen. Wenn es dann soweit ist, reist
sie mit ihrer Großformat-Kamera und einer enormen
Lichtausstattung an, was sich in der Feinheit und Plastizität
der Bilder niederschlägt. Oft wirken sie sehr steril, da
nichts dem Zufall überlassen wird. Sie nähert sich
ihrem Objekt auf eine mikroskopische Weise, und dies verursacht
manchmal den Eindruck, als seien ihre Bilder inszeniert worden. Es geht
ihr bei der Aufnahme nicht um einen bestimmten Moment, der etwas in
seiner Augenblicklichkeit über das Wesen des Fotografierten
aussagt, sondern mehr um die Dauer. Würden wir nun an diese
Orte reisen, um uns zu vergewissern, würden sie sich uns genau
so zeigen, wie sie auf Simons Bildern zu sehen sind.
Simon zeigt uns Bilder von Orten, Dingen und Gemeinschaften, von denen
wir schon mal gehört haben, ohne genau zu wissen, wie das
Gehörte eigentlich aussieht. So lernen wir durch ihre Linse
das Hauptgebäude des Ku-Klux-Klans kennen, wo sich in einem
der Räume vier junge Männer befinden, die sich mit
Waffen und Fahnen ausgerüstet haben und so aussehen, als
wären sie dieses Jahr an Fasching sehr unglücklich
über die Auswahl ihrer Kostüme.
Erstaunt blicken wir auf relativ belanglose Rohre, die an einem
Flugzeugträger befestigt sind und in vielen Trockengebieten
zur Erzeugung von Niederschlägen eingesetzt werden, um die
Landwirtschaft künstlich zu fördern.
Die Bilder bezeugen die Entwicklung der Menschheit und zeigen, was
heutzutage alles möglich ist. Man fragt sich, ob man bei
diesem Tempo noch mithalten kann. Ob nicht mittlerweile die Technik der
Menschheit ihren Rhythmus aufgezwungen hat und der Mensch mit seinen
neuen Erfindungen nur noch bestimmten Anforderungen der Technik, nicht
aber der Menschheit selbst dient. Simons Werk bildet eine
Bestandsaufnahme unserer heutigen Zeit und bietet dem Betrachter die
Möglichkeit, aus seiner üblichen Weltwahrnehmung
herauszutreten, um die Perspektive des Überblicks einzunehmen.
Wer in hundert Jahren wissen möchte, wie wir gelebt haben, dem
empfehle ich ihre Bilder.
Wie oben bereits erwähnt, setzt sie neben jedes ihrer Bilder
einen Text, der in möglichst nüchternem Ton
beschreibt, was man sieht. Dieser Text, den sie von fact-checkern
lektorieren lässt, verändert das Bild, er gibt ihm
seinen Rahmen und zeigt, wie wichtig Sprache ist, wenn es um Kunst
geht. Der Text bringt das Bild aber auch zum Verstummen, er
lässt es zu einer festen Form werden. Deshalb sollte man nicht
sofort Zuflucht zum Geschriebenen nehmen, sondern sich fragen, worum es
sich bei dem Bild handeln könnte. Man wird dann schnell
merken, dass das Vermutete selten mit dem Wirklichen
übereinstimmt. In dieser Offenheit stehen die Bilder und sie
ist ein Zeichen für den künstlerischen Anspruch der
Fotografien.
Die Texte erinnern uns aber auch an den verlorenen Glauben an
Fotografie und stellen den Satz: Ein
Bild sagt mehr als tausend Worte in Frage. Oft sind die
Orte zu fremd, als das sie keines Textes bedürften. Er
erklärt uns beispielsweise, dass es sich bei der Frau, die aus
dem Fenster eines Hauses blickt, um jemanden handelt, der von der
Regierung gezwungen wird, sein Heim zu verlassen.
Auf vielen ihrer Bilder thematisiert Simon den militärischen
Apparat ihres Landes. Sei es das Gebiet der Military Operations on Urban,
das einen Bereich von 90.000 Quadratkilometern umfasst und eine Stadt
für sich darstellt, wo Soldaten so realistisch wie
möglich auf Einsätze vorbereitet werden oder das
Cheyenne Mountain Directorate, das aus einem auf 1.319 Stahlfedern
ruhenden Gebäudekomplex besteht, der sich in einem Berg in
Colorado befindet und dafür zuständig ist, bei einem
Atomangriff oder Erdbeben Schutz zu bieten. Der Mythos Amerika wird von
Simons Kamera seziert und es kommt ein verletzbares Land zum Vorschein,
das sich mit aller Gewalt versucht, sich zu schützen. Zu
Zeiten des Kalten Krieges hätte man einige ihrer Bilder wohl
als Spionagefotografien bezeichnet.
„Es wird eine der revolutionären Funktionen des
Films sein, die künstlerische und die wissenschaftliche
Verwertung der Fotografie, die vordem meist auseinanderfielen, als
identisch erkennbar zu machen.“ So äußert
sich Walter Benjamin in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter
seiner technischen Reproduzierbarkeit.
Zunächst lässt sich festhalten, dass der
wissenschaftliche Anspruch in ihren Arbeiten eine große Rolle
spielt, was ja auch der Titel als Index
nahe legt. Hinzu kommt noch, dass Simon in keinem der Texte
ihre Meinung auch nur im Geringsten durchschimmern
lässt. Trotzdem wird der Betrachter dazu aufgefordert, eine
Position zu beziehen, denn niemanden können diese Bilder kalt
lassen.
Taryn Simon ist nicht nur an entlegene Orte gefahren, sondern was an
diesen Orten geschieht berührt Grenzen der Vorstellbarkeit und
manchmal auch der Legalität. Dazu gehört das Bild
zweier orthodoxer Juden, die der Neturei
Karta angehören, einer Organisation, die gegen
den Staat Israel protestiert und nicht davor zurückschreckt,
zu Konferenzen in den Iran zu reisen, um dort über die
Zerstörung ihrer ursprünglichen Heimat zu beraten.
Sie tun dies mit der Begründung, dass sich die Juden in ihrer
Vergangenheit versündigt hätten und Israel erst dann
als ihre Heimat bezeichnen dürften, wenn der Messias erscheint
und ihnen ihr Land zuweist. Zu diesen Grenzorten gehört
ebenfalls The Body Farm,
ein 2,5 ha großes Gelände auf dem sich 75 nicht
begrabene Leichen in unterschiedlichen Verwesungszuständen
befinden. Diese Einrichtung soll helfen, den Zeitpunkt des Todes und
falls unbekannt, die Identität von Leichen zu ermitteln, um so
Mordfälle besser aufklären zu können. Auf
Simons Bild sehen wir einen mit einem weißen T-Shirt
bekleideten Kadaver, der, umgeben von Ästen und
Gestrüpp, auf dem Waldboden liegt.
Eines der beeindruckendsten Grenzbilder ist das Cryonics Institute,
wo Menschen direkt nach ihrem Tod eingefroren werden, um in einer Zeit
wieder zum Leben erweckt zu werden, in der Krankheiten abgeschafft und
Alterungsprozesse aufgehoben sein werden. Simon hält den
Augenblick des Einfrierens fest und dieses Bild reflektiert das
Fotografieren an sich. „Das Fotografieren, so Susan Sontag,
dient einem höheren Zweck, nämlich (...) der
Konservierung einer entschwindenden Vergangenheit.“ Das
Einfrieren will genauso einen Moment festhalten und die Grenze zwischen
Leben und Tod zum Verschwinden bringen. Wahrscheinlich eher ungewollt
gelingt es Simon durch dieses Bild, die Mittel ihres Mediums zu
hinterfragen und einen Augenblick zur Ewigkeit werden zu lassen. Die
Ironie des Schicksals will es, dass der Staat Michigan im Jahre 2003
das Institut zum Friedhof erklärte und was sind wiederum
Fotografien anderes als Gräber, die den Betrachter an schon
längst Vergangenes erinnern.
Im Allgemeinen handelt es sich bei Simons Motiven um unheimliche Orte.
Sie liegen im Verborgenen, sind versteckt, ihnen wohnt meist etwas
Abweisendes inne. Man soll nicht gerne an diese Orte kommen, sie sollen
niemanden anziehen. Sie wirken verlassen und man würde dort
auch gar nicht länger verweilen wollen. Aber genau diesen
Zweck sollen sie ja auch haben. Sie bilden das Unterbewusstsein der
Gesellschaft. Darum trifft der Titel der Arbeit An American Index of the Hidden
and Unfamiliar so zu. Diese Orte wollen nicht entdeckt
werden, gerade weil ihnen in unserer Gesellschaft eine so
große Rolle zukommt. Man soll nicht genau erfahren, was da
eigentlich geschieht. So lange die Abläufe funktionieren, gibt
es doch eigentlich nichts zu hinterfragen. Wir verdanken es Simon,
diese Orte aufgespürt zu haben und nicht locker zu lassen,
diese so entscheidenden Plätze abzulichten. Gleichzeitig
wirken diese Orte absolut harm- und belanglos und erst der Text sprengt
das Gesehene auf. Ein Mann in Uniform sitzt gelangweilt in einem
fensterlosen Raum und starrt auf Knöpfe und Monitore. Was man
nicht weiß: Dieser Raum befindet sich in einem der
größten Atom-U-Boote der amerikanischen Marine, von
dem keiner weiß, wo es sich eigentlich genau
aufhält. Der von hinten fotografierte Mann ist nur dazu da,
den Befehl zur Zündung der Bombe zu empfangen, der ihn
jederzeit erreichen kann. Er ist einen Knopfdruck davon entfernt, einen
ganzen Kontinent auszulöschen.
Susan Sontag attestiert den Amerikanern eine Vorliebe für alle
möglichen Aktivitäten, die durch Maschinen
ermöglicht werden. Die Welt in Simons Bildern scheint von
Maschinen und ihrer Technik regelrecht überwuchert zu sein.
Die Natur spielt nur noch eine marginale Rolle. In erster Linie stellt
sie einen Nutzen dar und der Mensch macht sie sich zum Untertanen,
setzt sich über sie hinweg. Diese Beobachtung kann man machen,
wenn man sich Simons Tieraufnahmen genauer anguckt. Zum Beispiel den
weißen Tiger, der in einem Käfig gefangen gehalten
wird. Man ist geneigt zu denken, dass er einen im nächsten
Moment anspringen könnte. „In den Vereinigten
Staaten sind alle lebenden weißen Tiger das Resultat einer
selektiven Inzucht in Gefangenschaft. Sie dient dem Ziel,
künstlich die genetischen Bedingungen zu schaffen, die zu
weißem Fell, eisblauen Augen und einer rosafarbenen Nase
führen. Gegenwärtig ist die Inzucht, wie etwa die
zwischen Vater und Tochter, Bruder und Schwester, Mutter und Sohn
üblich geworden.“ So kann man es in Simons Text
nachlesen. Der weiße Tiger, der Kenny heißt, leidet
unter einer zu tief liegenden Nase, die ihm das Atmen und
Schließen des Mauls erschwert, seine Zähne sind
deformiert und er hinkt auf Grund der abnormen Knochenstruktur. Doch
blicken wir hier eigentlich nicht auf Kenny, den behinderten Tiger,
sondern in einen Spiegel. Wir sehen uns und wie wir uns die beste aller
Welten eingerichtet haben. Man könnte an dieser Stelle noch
ausführlicher das Bild vom weißen Hai in
Gefangenschaft besprechen, der sich seine Schnauze an einer riesigen
Glasscheibe kaputt gerammt hat oder das Bild von der Jagd auf
exotisches Wild, dem gerade das halbe Fell vom Leib heruntergerissen
wurde, doch man käme auf dasselbe Ergebnis.
Wie aber erscheint dieser Mensch auf ihren Bildern, wenn er denn mal
abgelichtet wird? Eigentlich ist er ja auf jedem Bild zu sehen, da er
ja hinter all den Erfindungen steckt, die Simon in ihren Bildern
festhält. Betritt jedoch der Mensch leibhaftig die
Bühne, ist er meist in ein düsteres Licht getaucht.
Ich denke dabei an den an Krebs erkrankten und im Rollstuhl sitzenden
Don James, der auf dem Recht besteht, sich selbst umbringen zu
dürfen, ich denke dabei an Ben Best, den Präsidenten
des Cryonics Institute,
der auf einer Art Operationstisch Platz genommen hat und irgendwelche
Listen von einfrierwilligen Todeskandidaten durchsieht und an Pastor
Jimmy Morrow der Edwina
Church of God in Jesus Christ’s Name, der gerade
dabei ist, seinen nächsten Gottesdienst vorzubereiten, indem
er eine giftige Schlange in Händen hält, die dazu da
ist, die Sündhaftigkeit der Gemeindemitglieder zu entlarven.
Wenn man diese Menschen betrachtet, kommt man sich wie in einem
Psychothriller vor. Auf der einen Seite wirkt das alles
äußerst inszeniert. Mehrere Faktoren sprechen
dafür: Auswahl des Lichts, der Perspektive und der Position
des Abgebildeten, denn das Bild ist ja nicht einfach mal so entstanden.
Aber auf der anderen Seite muss man zugeben, dass diese Menschen stets
an den Orten fotografiert wurden, wo sie ihren Tätigkeiten
auch sonst nachgehen. Sie besetzen diese Orte und der Ausschnitt
verfremdet nicht wirklich.
Wenn man den Katalog zur Seite legt oder die Ausstellung
verlässt, entsteht aus all den vielen Bildern ein ganz neues.
Es ist, als würden sich die einzelnen Bilder zu einem einzigen
verdichten und dieses eine Bild erzählt die Geschichte unserer
Zeit, die Geschichte unserer Gesellschaft, dieses Bild lehrt uns das
Fürchten.