Zur Unschuld Verurteilte oder
die verborgene Gesellschaft

von Daniel Schierke


Im Jahr 2000 plante das New York Times Magazine einen Bericht über unschuldig Verurteilte in den USA zu veröffentlichen und man beauftragte Taryn Simon, die Bilder zu diesem Artikel zu liefern. Doch auch nach der Publikation verfolgte das Thema sie weiterhin und die Fotografin unternahm Reisen durch ganz Amerika, um Menschen zu fotografieren und mit ihnen zu sprechen, die einen langen Zeitraum ihres Lebens im Gefängnis verbrachten, obwohl sie mit der ihnen vorgeworfenen Tat nichts zu tun hatten. Dadurch entstand The Innocents. Hier begegnet der Betrachter einem Panorama der amerikanischen Gesellschaft, da Simon Menschen aufnahm, die unterschiedlicher Hautfarbe sind und aus unterschiedlichen Einkommensklassen stammen.
Worauf kommt es Taryn Simon in dieser Arbeit an? In ihrem Vorwort schreibt sie: Das Rechtssystem hat versäumt, die Begrenzungen im Vertrauen auf fotografische Bilder zu erkennen. Bei den meisten Festnahmen stützte sich die Polizei nämlich auf Fotografien, auf denen die Opfer glaubten, ihre Täter zu erkennen. Bei der direkten Gegenüberstellung erkannten sie dann nur den Menschen auf der Fotografie wieder und glaubten, es sei ihr Täter. Dieses Projekt, so Simon, macht auf die Konsequenz aufmerksam, die Grenzen der Fotografie zu ignorieren.
Sie hat die Menschen an Orten aufgenommen, die in Verbindung mit der Tat stehen. Es handelt sich dabei entweder um den Ort der Verhaftung, des Alibis oder den Tatort selbst. Ein Bild kann für Simon nur aus seiner Geschichte und dem Zusammenhang heraus verstanden werden, in dem es gemacht wurde. Darum wird jedes Bild durch einen Text ergänzt, der in sachlichem Ton den Hergang der Tat, den Verlauf des Prozesses und die Mittel beschreibt, wodurch der Verurteilte seine Unschuld beweisen konnte. Sie lässt aber auch die Unschuldigen zu Wort kommen, die erzählen, wie die Verurteilung ihr Leben verändert hat. So kann der Betrachter verfolgen, wie sich Fiktion in Wirklichkeit verwandelt, die sich in den Gesichtern der Porträtierten widerspiegelt.
Simons Arbeit ist nicht nur eine künstlerische, sondern vor allem auch eine politische, sind doch viele ihrer Abgebildeten zum Tode verurteilt worden. Damit berührt sie eines der umstrittensten Themen der amerikanischen Gesellschaft, da die Todesstrafe immer mehr in Frage gestellt wird. Ihre Bilder spielen eine wichtige Rolle im Bewusstseinswandel der Amerikaner.
In einem Amazon-Kommentar zu Simons Arbeit schreibt Andrea Dunlap: The Innocents verleiht den Statistiken Gesichter und Geschichten und dient als fesselnde Dokumentation eines nationalen Problems. Doch diese Geschichten können nur im Ansatz erzählt werden; die Bilder regen die Einbildungskraft des Betrachters an und lassen das unvorstellbare Ausmaß des Horrors erahnen, den die Innocents seit ihrer Verurteilung und noch weit darüber hinaus durchleben.
Zunächst einmal hat man es bei The Innocents mit einem sehr poetischen Werk zu tun. Simon fotografiert an Orten, die etwas Geheimnisvolles ausstrahlen. Die Menschen wirken isoliert und vereinsamt als befände sich meilenweit kein anderes menschliches Wesen. Auch wenn sie direkt in die Kamera blicken, scheinen sie mit etwas beschäftigt, womit sie nicht fertig werden. Simon schreibt dazu: Ein Ort, der die Existenzen der Unschuldigen für immer veränderte, obwohl sie niemals dort gewesen sind. Höchstwahrscheinlich stehen sie zum ersten Mal an diesem Ort, der ihr Schicksal verändert hat, und es war Simon, die sie dort hingebracht hat. Als Betrachter wird man Zeuge dieser erstmaligen Konfrontation. Auf der einen Seite haben wir diese befremdende Schönheit der Orte und auf der anderen diese gezeichneten Gesichter, deren Geschichte wir durch die beigefügten Texte im Ansatz kennenlernen. Vielleicht liegt das Poetische dieser Bilder in diesem Kontrast. Doch diese Poesie kostet einen hohen Preis. Ist hier doch nicht nur den Unschuldigen, sondern auch den Opfern, meist vergewaltigte Frauen, Unaussprechliches zugestoßen.
Taryn Simon reflektiert in ihrer Arbeit unseren Umgang mit Bildern. Die beigefügten Texte bringen ihr Misstrauen gegenüber ihrem eigentlichen Metier, der Fotografie, zum Ausdruck.
Wir vertrauen Bildern oft blind und diesen Glauben stellt Simon radikal in Frage. Wir lesen etwas in sie hinein, was nicht in ihnen steht. Nachdem man dann die Texte gelesen hat, sieht man die Bilder aus einer anderen Perspektive. Es ist wie bei einem Puzzle. Auch der Text fließt mit ins Bild, nicht ergänzend, sondern vervollständigend.
Dabei sind Simons Bilder selbst auch wieder Konstruktionen. Ihre Arbeit ist von einem extremen Aufwand an Technik geprägt, leuchtet sie doch die Orte minutiös aus und überlässt nichts dem Zufall. Sie beherrscht ihr Handwerk und vielleicht steckt darin gerade ihre Kunst.
Darum sind diese Bilder nicht in erster Linie in Zeitungen und Magazinen zu finden, mag deren Ansatz auch journalistisch sein, sondern vor allem im Ausstellungsraum.
Wenn eine schreckliche Tat begangen wurde, ist der Wunsch nach Vergeltung groß. Manchmal geht dieser Wunsch über Leichen. Die Texte in Simons Buch erzählen von dem Zwang und der Besessenheit der amerikanischen Behörden, einen Schuldigen zu finden. Beispielsweise schreckt die Polizei im Fall Larry Mayes nicht davor zurück, das Opfer gar zu hypnotisieren, um einen Anhaltspunkt zu erhalten. Und obwohl mehrere Zeugen belegen können, dass sich Tim Durham während der Tatzeit in einem ganz anderen Bundesstaat aufhielt, wird er für schuldig befunden. Im Verlaufe der Beschäftigung mit diesem Werke drängt sich der zynische Eindruck auf, dass man lieber einen Unschuldigen verurteilt, als gar keinen Schuldigen vorzuzeigen. Simons Arbeit lehrt uns, noch sorgfältiger mit Beweisen umzugehen und nicht durch blinde Wut getrieben einen vorgeblich Schuldigen zu finden. Dabei werden die erst seit kurzem vor Gericht als Beweismaterial gestatteten DNA-Proben immer wichtiger, da sich mit ihrer Hilfe die Schuld oder Unschuld eines Angeklagten einwandfrei feststellen lässt. Das Schicksal eines Menschen hängt in allen hier vorgestellten Fällen von einer Haar- oder Samenprobe ab.
Auch in ihrer zweiten großen Arbeit An American Index of the Hidden and Unfamiliar setzt Simon ihre kritische Beschäftigung mit der amerikanischen Gesellschaft fort. Bei ihr ist das Bild nie nur als Bild zu verstehen. Es repräsentiert nicht im dekorativen, sondern in einem politisch-sozialen Sinne. In jeder Fotografie von The Innocents werden wir durch den Anblick der Unschuldigen auf den Zusammenhang zwischen Bürger, Rechtssystem und Staat aufmerksam gemacht.
Doch die Bilder gewähren dem Betrachter auch einen ganz persönlichen Zugang zu den ehemals Verurteilten. Man lernt dabei schwer Traumatisierte kennen, die trotz ihrer Freilassung nicht von ihrer unbegangenen Tat loskommen. Sie wurden jahrelang als die wahren Täter grauenvoller Verbrechen abgestempelt und jeder sah in ihnen, wofür sie zu unrecht verurteilt worden waren. Wie Schatten ihrer selbst wirken diese Menschen an den Orten, wo Simon sie fotografiert hat. Viele sprechen in den mit Simon geführten Interviews über ihre Angst, wieder verhaftet zu werden. Sie haben sich in ihre vier Wände verschanzt und das Vertrauen in ihre Mitmenschen und die staatlichen Behörden verloren. Ihr Leben hat sich in ein Gefängnis ohne Mauern verwandelt.
Die Bilder von Taryn Simon brennen sich ins Gedächtnis des Betrachters ein. Trotz ihrer poetischen Kraft verstören sie mehr als sie erfreuen. Simon entpuppt sich bei The Innocents als große Erzählerin. Doch kann jedes Foto nur der Anfang einer Geschichte abbilden, ihre Fortsetzung, und damit erfüllt sie die Eigenschaft eines jeden großen Kunstwerks, erfolgt im Kopf des Betrachters.

Der zweite Teil dieses Aufsatzes beschäftigt sich mit Simons Arbeit An American Index of the Hidden and Unfamiliar, die im Anschluss an The Innocents entstanden ist. Dieses Werk verwirklichte sie im Zeitraum von 2003 bis 2007 und alle Bilder sind in den Vereinigten Staaten gemacht worden.
Simons Index umfasst viele verschiedene Bereiche der heutigen Gesellschaft. Sie verschafft dem Betrachter einen Einblick in unterschiedliche staatliche Einrichtungen, sie stellt eigenartige religiöse Gemeinden vor, sie betritt medizinische und militärische Felder, hält bizarre Landschaften fest, setzt sich mit der Unterhaltungsindustrie auseinander und selbst vor dem Reich der Tiere macht ihr Objektiv nicht halt. Einige der Einrichtungen tragen eine große Verantwortung für die gesamte Menschheit auf ihren Schultern. So zum Beispiel das U.S. Department of Energy, das für die Verkapselung und Einlagerung von Atommüll zuständig ist. Simons zeigt einige der 1.936 blau glimmenden Atommüllbehälter, die in einem Wasserbecken gelagert werden. In ihrem Umriss erinnern sie an den Küstenverlauf der USA. Befände sich ein Mensch weniger als 30 cm von einem nicht abgedeckten Behälter entfernt, wäre er innerhalb von zehn Sekunden einer tödlichen Strahlung ausgeliefert.



Simons Bilder offenbaren einem die verborgenen Seiten der Gesellschaft, sozusagen dasjenige, was hinter den Kulissen geschieht, aber unseren Alltag in hohem Maße regelt. Auf einem ihrer Bilder ist bloß eine Leiter zu sehen, die vor einer weißen Wand steht. Doch außer zwei orangenen Kabeln, die an der Halterung befestigt sind, sieht man nichts. Erst durch den beigefügten Text, der jedes ihrer Bilder begleitet, erfährt man, dass die Kabel den gesamten Atlantik überbrücken, um den Verkehr von über 60 Millionen gleichzeitig geführten Gesprächen zu garantieren.
Auf den ersten Blick haben die einzelnen Bilder nichts miteinander zu tun, jedes steht für sich, doch da kein einziges von ihnen genau datiert ist, wird der Seriencharakter und der Sinnzusammenhang der Arbeit unterstrichen.
Die Fotografin betreibt einen großen Aufwand, damit ihre Bilder entstehen können. Zunächst müssen die Motive ausgewählt (was meist über das Internet geschah) und eine Erlaubnis eingeholt werden. Manchmal haben sich die Anfragen über Jahre hingezogen. Wenn es dann soweit ist, reist sie mit ihrer Großformat-Kamera und einer enormen Lichtausstattung an, was sich in der Feinheit und Plastizität der Bilder niederschlägt. Oft wirken sie sehr steril, da nichts dem Zufall überlassen wird. Sie nähert sich ihrem Objekt auf eine mikroskopische Weise, und dies verursacht manchmal den Eindruck, als seien ihre Bilder inszeniert worden. Es geht ihr bei der Aufnahme nicht um einen bestimmten Moment, der etwas in seiner Augenblicklichkeit über das Wesen des Fotografierten aussagt, sondern mehr um die Dauer. Würden wir nun an diese Orte reisen, um uns zu vergewissern, würden sie sich uns genau so zeigen, wie sie auf Simons Bildern zu sehen sind.
Simon zeigt uns Bilder von Orten, Dingen und Gemeinschaften, von denen wir schon mal gehört haben, ohne genau zu wissen, wie das Gehörte eigentlich aussieht. So lernen wir durch ihre Linse das Hauptgebäude des Ku-Klux-Klans kennen, wo sich in einem der Räume vier junge Männer befinden, die sich mit Waffen und Fahnen ausgerüstet haben und so aussehen, als wären sie dieses Jahr an Fasching sehr unglücklich über die Auswahl ihrer Kostüme.
Erstaunt blicken wir auf relativ belanglose Rohre, die an einem Flugzeugträger befestigt sind und in vielen Trockengebieten zur Erzeugung von Niederschlägen eingesetzt werden, um die Landwirtschaft künstlich zu fördern.
Die Bilder bezeugen die Entwicklung der Menschheit und zeigen, was heutzutage alles möglich ist. Man fragt sich, ob man bei diesem Tempo noch mithalten kann. Ob nicht mittlerweile die Technik der Menschheit ihren Rhythmus aufgezwungen hat und der Mensch mit seinen neuen Erfindungen nur noch bestimmten Anforderungen der Technik, nicht aber der Menschheit selbst dient. Simons Werk bildet eine Bestandsaufnahme unserer heutigen Zeit und bietet dem Betrachter die Möglichkeit, aus seiner üblichen Weltwahrnehmung herauszutreten, um die Perspektive des Überblicks einzunehmen. Wer in hundert Jahren wissen möchte, wie wir gelebt haben, dem empfehle ich ihre Bilder.
Wie oben bereits erwähnt, setzt sie neben jedes ihrer Bilder einen Text, der in möglichst nüchternem Ton beschreibt, was man sieht. Dieser Text, den sie von fact-checkern lektorieren lässt, verändert das Bild, er gibt ihm seinen Rahmen und zeigt, wie wichtig Sprache ist, wenn es um Kunst geht. Der Text bringt das Bild aber auch zum Verstummen, er lässt es zu einer festen Form werden. Deshalb sollte man nicht sofort Zuflucht zum Geschriebenen nehmen, sondern sich fragen, worum es sich bei dem Bild handeln könnte. Man wird dann schnell merken, dass das Vermutete selten mit dem Wirklichen übereinstimmt. In dieser Offenheit stehen die Bilder und sie ist ein Zeichen für den künstlerischen Anspruch der Fotografien.
Die Texte erinnern uns aber auch an den verlorenen Glauben an Fotografie und stellen den Satz: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte in Frage. Oft sind die Orte zu fremd, als das sie keines Textes bedürften. Er erklärt uns beispielsweise, dass es sich bei der Frau, die aus dem Fenster eines Hauses blickt, um jemanden handelt, der von der Regierung gezwungen wird, sein Heim zu verlassen.
Auf vielen ihrer Bilder thematisiert Simon den militärischen Apparat ihres Landes. Sei es das Gebiet der Military Operations on Urban, das einen Bereich von 90.000 Quadratkilometern umfasst und eine Stadt für sich darstellt, wo Soldaten so realistisch wie möglich auf Einsätze vorbereitet werden oder das Cheyenne Mountain Directorate, das aus einem auf 1.319 Stahlfedern ruhenden Gebäudekomplex besteht, der sich in einem Berg in Colorado befindet und dafür zuständig ist, bei einem Atomangriff oder Erdbeben Schutz zu bieten. Der Mythos Amerika wird von Simons Kamera seziert und es kommt ein verletzbares Land zum Vorschein, das sich mit aller Gewalt versucht, sich zu schützen. Zu Zeiten des Kalten Krieges hätte man einige ihrer Bilder wohl als Spionagefotografien bezeichnet.
„Es wird eine der revolutionären Funktionen des Films sein, die künstlerische und die wissenschaftliche Verwertung der Fotografie, die vordem meist auseinanderfielen, als identisch erkennbar zu machen.“ So äußert sich Walter Benjamin in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.
Zunächst lässt sich festhalten, dass der wissenschaftliche Anspruch in ihren Arbeiten eine große Rolle spielt, was ja auch der Titel als Index nahe legt.  Hinzu kommt noch, dass Simon in keinem der Texte ihre  Meinung auch nur im Geringsten durchschimmern lässt. Trotzdem wird der Betrachter dazu aufgefordert, eine Position zu beziehen, denn niemanden können diese Bilder kalt lassen.
Taryn Simon ist nicht nur an entlegene Orte gefahren, sondern was an diesen Orten geschieht berührt Grenzen der Vorstellbarkeit und manchmal auch der Legalität. Dazu gehört das Bild zweier orthodoxer Juden, die der Neturei Karta angehören, einer Organisation, die gegen den Staat Israel protestiert und nicht davor zurückschreckt, zu Konferenzen in den Iran zu reisen, um dort über die Zerstörung ihrer ursprünglichen Heimat zu beraten. Sie tun dies mit der Begründung, dass sich die Juden in ihrer Vergangenheit versündigt hätten und Israel erst dann als ihre Heimat bezeichnen dürften, wenn der Messias erscheint und ihnen ihr Land zuweist. Zu diesen Grenzorten gehört ebenfalls The Body Farm, ein 2,5 ha großes Gelände auf dem sich 75 nicht begrabene Leichen in unterschiedlichen Verwesungszuständen befinden. Diese Einrichtung soll helfen, den Zeitpunkt des Todes und falls unbekannt, die Identität von Leichen zu ermitteln, um so Mordfälle besser aufklären zu können. Auf Simons Bild sehen wir einen mit einem weißen T-Shirt bekleideten Kadaver, der, umgeben von Ästen und Gestrüpp, auf dem Waldboden liegt.



Eines der beeindruckendsten Grenzbilder ist das Cryonics Institute, wo Menschen direkt nach ihrem Tod eingefroren werden, um in einer Zeit wieder zum Leben erweckt zu werden, in der Krankheiten abgeschafft und Alterungsprozesse aufgehoben sein werden. Simon hält den Augenblick des Einfrierens fest und dieses Bild reflektiert das Fotografieren an sich. „Das Fotografieren, so Susan Sontag, dient einem höheren Zweck, nämlich (...) der Konservierung einer entschwindenden Vergangenheit.“ Das Einfrieren will genauso einen Moment festhalten und die Grenze zwischen Leben und Tod zum Verschwinden bringen. Wahrscheinlich eher ungewollt gelingt es Simon durch dieses Bild, die Mittel ihres Mediums zu hinterfragen und einen Augenblick zur Ewigkeit werden zu lassen. Die Ironie des Schicksals will es, dass der Staat Michigan im Jahre 2003 das Institut zum Friedhof erklärte und was sind wiederum Fotografien anderes als Gräber, die den Betrachter an schon längst Vergangenes erinnern.
Im Allgemeinen handelt es sich bei Simons Motiven um unheimliche Orte. Sie liegen im Verborgenen, sind versteckt, ihnen wohnt meist etwas Abweisendes inne. Man soll nicht gerne an diese Orte kommen, sie sollen niemanden anziehen. Sie wirken verlassen und man würde dort auch gar nicht länger verweilen wollen. Aber genau diesen Zweck sollen sie ja auch haben. Sie bilden das Unterbewusstsein der Gesellschaft. Darum trifft der Titel der Arbeit An American Index of the Hidden and Unfamiliar so zu. Diese Orte wollen nicht entdeckt werden, gerade weil ihnen in unserer Gesellschaft eine so große Rolle zukommt. Man soll nicht genau erfahren, was da eigentlich geschieht. So lange die Abläufe funktionieren, gibt es doch eigentlich nichts zu hinterfragen. Wir verdanken es Simon, diese Orte aufgespürt zu haben und nicht locker zu lassen, diese so entscheidenden Plätze abzulichten. Gleichzeitig wirken diese Orte absolut harm- und belanglos und erst der Text sprengt das Gesehene auf. Ein Mann in Uniform sitzt gelangweilt in einem fensterlosen Raum und starrt auf Knöpfe und Monitore. Was man nicht weiß: Dieser Raum befindet sich in einem der größten Atom-U-Boote der amerikanischen Marine, von dem keiner weiß, wo es sich eigentlich genau aufhält. Der von hinten fotografierte Mann ist nur dazu da, den Befehl zur Zündung der Bombe zu empfangen, der ihn jederzeit erreichen kann. Er ist einen Knopfdruck davon entfernt, einen ganzen Kontinent auszulöschen.
Susan Sontag attestiert den Amerikanern eine Vorliebe für alle möglichen Aktivitäten, die durch Maschinen ermöglicht werden. Die Welt in Simons Bildern scheint von Maschinen und ihrer Technik regelrecht überwuchert zu sein. Die Natur spielt nur noch eine marginale Rolle. In erster Linie stellt sie einen Nutzen dar und der Mensch macht sie sich zum Untertanen, setzt sich über sie hinweg. Diese Beobachtung kann man machen, wenn man sich Simons Tieraufnahmen genauer anguckt. Zum Beispiel den weißen Tiger, der in einem Käfig gefangen gehalten wird. Man ist geneigt zu denken, dass er einen im nächsten Moment anspringen könnte. „In den Vereinigten Staaten sind alle lebenden weißen Tiger das Resultat einer selektiven Inzucht in Gefangenschaft. Sie dient dem Ziel, künstlich die genetischen Bedingungen zu schaffen, die zu weißem Fell, eisblauen Augen und einer rosafarbenen Nase führen. Gegenwärtig ist die Inzucht, wie etwa die zwischen Vater und Tochter, Bruder und Schwester, Mutter und Sohn üblich geworden.“ So kann man es in Simons Text nachlesen. Der weiße Tiger, der Kenny heißt, leidet unter einer zu tief liegenden Nase, die ihm das Atmen und Schließen des Mauls erschwert, seine Zähne sind deformiert und er hinkt auf Grund der abnormen Knochenstruktur. Doch blicken wir hier eigentlich nicht auf Kenny, den behinderten Tiger, sondern in einen Spiegel. Wir sehen uns und wie wir uns die beste aller Welten eingerichtet haben. Man könnte an dieser Stelle noch ausführlicher das Bild vom weißen Hai in Gefangenschaft besprechen, der sich seine Schnauze an einer riesigen Glasscheibe kaputt gerammt hat oder das Bild von der Jagd auf exotisches Wild, dem gerade das halbe Fell vom Leib heruntergerissen wurde, doch man käme auf dasselbe Ergebnis.



Wie aber erscheint dieser Mensch auf ihren Bildern, wenn er denn mal abgelichtet wird? Eigentlich ist er ja auf jedem Bild zu sehen, da er ja hinter all den Erfindungen steckt, die Simon in ihren Bildern festhält. Betritt jedoch der Mensch leibhaftig die Bühne, ist er meist in ein düsteres Licht getaucht. Ich denke dabei an den an Krebs erkrankten und im Rollstuhl sitzenden Don James, der auf dem Recht besteht, sich selbst umbringen zu dürfen, ich denke dabei an Ben Best, den Präsidenten des Cryonics Institute, der auf einer Art Operationstisch Platz genommen hat und irgendwelche Listen von einfrierwilligen Todeskandidaten durchsieht und an Pastor Jimmy Morrow der Edwina Church of God in Jesus Christ’s Name, der gerade dabei ist, seinen nächsten Gottesdienst vorzubereiten, indem er eine giftige Schlange in Händen hält, die dazu da ist, die Sündhaftigkeit der Gemeindemitglieder zu entlarven. Wenn man diese Menschen betrachtet, kommt man sich wie in einem Psychothriller vor. Auf der einen Seite wirkt das alles äußerst inszeniert. Mehrere Faktoren sprechen dafür: Auswahl des Lichts, der Perspektive und der Position des Abgebildeten, denn das Bild ist ja nicht einfach mal so entstanden. Aber auf der anderen Seite muss man zugeben, dass diese Menschen stets an den Orten fotografiert wurden, wo sie ihren Tätigkeiten auch sonst nachgehen. Sie besetzen diese Orte und der Ausschnitt verfremdet nicht wirklich.
Wenn man den Katalog zur Seite legt oder die Ausstellung verlässt, entsteht aus all den vielen Bildern ein ganz neues. Es ist, als würden sich die einzelnen Bilder zu einem einzigen verdichten und dieses eine Bild erzählt die Geschichte unserer Zeit, die Geschichte unserer Gesellschaft, dieses Bild lehrt uns das Fürchten.