Toast

von Oliver Walther


Unternähme man den Versuch zu bestimmen, welcher Generalnenner als Charakteristikum moderner Literatur oder Kunst im allgemeinen taugte, so ließe sich unter anderen Aspekten der Tatbestand nennen, dass sie in unendlichem Regress die Bedingungen der Möglichkeit ihres eigenen Zustandekommens befragt, sich also angewöhnt hat, mit dem künstlerischen Sujet gleichzeitig auch das der Kunst auferlegte Los zu bedenken. Für die Dichtung mag dabei wohl Hölderlin als derjenige Schriftsteller gelten, dessen Werk am eindringlichsten die Frage „Wozu Dichter?“ stellt und damit den Beginn einer Entwicklung markiert, in deren bis heute andauernden Verlauf Dichtung scheinbar nur noch diesen Namen verdient, wenn sie sich in ihrer (Selbst-)Verständlichkeit zum Problem geworden ist.
Auch die Poesie Mario Luzis (*1914), dessen Gedichte ihn in der Nachfolge Ungarettis und Montales zu einem der Hauptvertreter des –nicht ohne pejorative Hintergedanken– sogenannten „ermetismo“ (Hermetismus) gemacht haben, ist den möglichen Erkenntnis- und Denkzusammenhängen lyrischer Schöpfung im 20. Jahrhundert gewidmet. Die Problematik einer sinnvollen Verortung modernen dichterischen Sprechens taucht in den Gedichten und Essays des 2005 verstorbenen Literaturprofessors wiederholt in der Nähe des Namens Mallarmé auf, in dessen Lyrik und Prosa –von Luzi ins Italienische übertragen– in besonders eindringlicher Weise die Brüchigkeit des sprachlichen Darstellungsvermögens, als schier unmögliche Integration von figurativen und referentiellen Sinn, zum Austrag kommt. Auf einer gewissen Ebene des Verstehens mag daher das hier vorgestellte Gedicht Luzis nicht allein durch allgemeinen Ton und gewundene Diktion den denkbaren Zusammenhang mit der Dichtung Mallarmés gestatten, ferner beschreibt das in „Brindisi“ erklingende Echo von „Toast funèbre“ den Versuch einer Annährung, um  Mallarmés in diesem Gedicht konfiguriertem Denken in neuen Konstellationen zu begegnen.
Die Begegnung –verstanden als ein zentraler Aspekt sprachlicher Erfahrung und als Grundform literarischer Verfahrensweisen– steht auch bei Mallarmé selbst im Zentrum seines als Grabrede für Théophile Gautier konzipierten Gedichtes, nicht zuletzt ablesbar an dem zum Trinkspruch erhobenen Becher; eine Geste die spätestens seit Pindar zum festgefügtem Motivrepertoire des lyrischen Salutierens gezählt werden kann. Der Dichtergruß teilt in diesem Sinne mindestens zwei ineinander verschränkte Merkmale: die Verlässlichkeit, sich einerseits auf die traditionellen poetischen Mitteilungsmechanismen der literarischen Vorgänger stützen zu können und andererseits - auch in einer gewissen eucharistischen Tradition – das Bewusstsein, die Artikulation einer sprachlich formulierten Wahrheit gegenüber einer aufnahmebereiten und ansprechbaren Gemeinschaft vorzutragen. Indem Mallarmé seinen finsteren Trinkspruch mit leerem Glas ausspricht weist er damit auf eine mehrfache Entmystifizierung des dichterischen Sprechens hin: die Unversöhnlichkeit von Sprache und spiritueller Wahrheit zernichtet auch die Allianz von Dichter und Gemeinschaft.  
Von eben dieser Zerklüftung dichterischen Sprechens zehrt auch Luzi in seinem Gedicht „Brindisi“, legen die evozierten Bilder und das Defilee schemenhafter Figuren doch sichtbar nahe, wie es um die Formbarkeit spiritueller Realitäten im Gedicht bestellt ist. Wenn lyrischer Sprache im Gefolge von Mallarmés Denken die erschütternde Unmöglichkeit eingeschrieben ist einer allgemeinen Wahrheit Gestalt zu geben, so bleibt inmitten all dieser Verluste vielleicht nur noch das eine erreichbar: die Sprache selbst. Unterwegs zu dieser, verweist das Gedicht im äußeren Saum seiner Bewegung auch auf das Bemühen dichterischen Sprechens, sich mit einer eigenen Sprache auch gleichzeitig eine Gemeinschaft von Zuhörern zu entwerfen, auf die es zusteuern könnte – eine Tendenz, die als vielleicht letzte Funktion lyrischer Sprache in der „Ära des Zweifels“ verbleibt. Getragen von einem solchen Ringen um (An-) Sprechbarkeit, gewinnt auch das leere Glas in Mallarmés „Toast funèbre“ von Luzis hymnischer Rede her neue Konturen: nicht allein als Indiz für das endgültige Herausgehobensein des Dichters aus der Gemeinschaft, sondern als die bevorstehende Aufgabe von Dichtung diese zu suchen und zu stiften. In dem nicht immer hoffnungsstarken Glauben eine Ansprechbares oder Besprechbares zu finden, erfüllt sich für Luzi im Gruß an die Leere gemäß des Hölderlinwortes aus „Brot und Wein“ die Aufgabe des Dichters in dürftiger Zeit.




Mario Luzi

Ein Trinkspruch (1941)


Bisweilen vermag es, dein Gesicht
die zitternde Unstimmigkeit der Lorbeerhecken wiederzuspiegeln,
die allabendlich wechselnden Lichter in Höfen und Laternen,
ein Schaudern des Amarants;
und wenn in verwaisten Städte, weißen Wunden,
zuweilen Fenster stürzen,
lange Fieberstriche in Dites Farben
den Himmel in ebenso vielen Blitzen durchzucken,
wenn ein eingefangener Strahl verletzt
unter weißen Zitadellen um sich schlägt,
überflogen von in den Diamant gerichteten Blicken der Jahreszeiten,
die in knospendem Lichtschein schlummernden Haare,
selbst dies vermag es bisweilen zu spiegeln – dein Gesicht.


Das Herz jedoch, vermag ich wohl zu sagen, wohin es sich verirrte,
hinter der Sonne durch Rosenfelder und Laubgänge raschelnd,
hinter dem tönenden Blau, das den dunklen Schimmer
auf Lippen beleidigt, verdunkelt
von Abendhäusern und von seinem Halbmond?
Im Wein der Familienfeste,
deren Rauch den ländlichen Himmel verdunkelt?
Liebevolles Dahinscheiden in schillernden Tränen,
blutleere Arme um Schatten geschnürt.
Zwischen den Rosen Armidas erblasste ein Krieger
unter windgierigen Weiden
beweinte eine Frau mit tränenschweren Augen
ihre gleichgültige Vergangenheit....


Unwiderruflich, deinem schwermütigen Herzen gleich,
so schwillt auch das Herz des Menschen an, betäubt
verzweigt sich die Trauer in die Leere
des Blutes, in die Stille eines unbewegten Himmels.
Ungeformte Leiden, Schreie, zwecklose Gebete.
Vergessen leuchtet im Staube  
der Nischen, die ausgedörrte Mutter,
mit ihrer katholischen Stimme Hoffnung verprassend,
ihr schwarzer Blick einer Schwalbe gleich,
doch die dauernde Wärme ihrer schon leichenblassen Milch
vermag, erfreut von leidenschaftlicher Nacht,
auch ihren Körper zu bewegen
und was einst im Schimmer des Lichts ins Dunkle zurückwich.

Das Unkraut breitet sich aus und das Moos
überwuchert die Eidechsen, in den Adern
der Erde verdunkeln sich die Wasserfälle,
von Schwüle der Wälder gefärbt,
so schmachten die Ströme unter vergänglichen Blicken der Herden,
der Geruch von Harz peinigt
die Nüstern, längsseits zieht ein Auftrieb -
Pferde mit glühendem Tritt - ins Gebirge,
aus Wolken vernimmt sich ein Wiehern;
von Trostlosigkeit und Grauen beflügelt
heften blonde Hunde ihren Blick auf unbekannte Abdrücke im Staub,
die umgänglichen Tiere entfliehen,
über Straßen, vom Auge verbrannt und verlassen,
stürzt bleicher und sehniger Pesthauch, glänzend,
über Trümmer in Asche.
Scheint der Thron der Könige umgeben von Zorn.
 
Dissonantes Dasein, störrischer Schatten
und träger Streit versteckter Dämonen,
klare Gesten unmöglich, böser Zauber,
ein rätselhafter Frost behindert das Leben:
die Hand verlernt das Liebkosen,
der Mund verschließt sich dem Worte und Lächeln,
ein Zeitalter des Abscheus vergossen auf meinem Gesicht,
überdrüssig noch länger zu fordern.
Die finsteren Körper auf Stein herrlich
ins Licht gehalten, vor Stößen,
Licht und Fieber sich schützend, und ein Netz von Reflexen,
dessen Maschen sich aufgeschreckt zusammenziehen
um sich Mal um Mal bewegt zu erweitern
im verlassenen Blick, uferlos.  


Du aber, Verlorene, verströme dich, meine Seele
jenseits deiner fahlen Grenzen
begehre die leidenschaftslose Rose,
vergessener Länder am Rande enttäuschter Wege,
eine abseits der Jahreszeiten beharrliche Rose,
unbewegte Rose im Äther, ungeteilt,
zögernd zwischen Tag und Nacht, Korn
unverwirklichter, stiller Frühlinge,
möglicher Gärten im Wind.
Verlangen, von nun an befreit, das schlaflose Dunkel
Hecken bis zum Dach des Himmels,
und die Schwalbe tief und andauernd
deren Klarheit die Welt neu aufrichtet.   


Schweigen der Erde, Münder, Münder
von Tränen vernäht: und der Tod könnte
in Stille im Antlitz des Menschen
unter verdichtetem Himmel geschlossen Gestalt annehmen;
auf der gegenständlichen Erde im Warten,
auf Regen und Sonne, jeder Atem unterdrückt,
der Mensch und die konzentrische Leere um seine Schultern,
ins Unendliche gewundene Wege.
Schweigen, Verwaisung unbegleiteter Gesten,
unbewohntes Gelächter, Kargheit
der Hände vor das Gesicht geschlagen,
wenn das leblose Gebäude von hallendem Schrei
erfüllt die Städte überragt.
Aber lasst das Wasser von uns sprechen
von Statuen bekleidete Seelenruhe,
Statuen die, auf den Ruf einer Stimme hin,
ihr Gesicht wenden, die sich aus dem Acheron erhebt.
Vermöchte ein ewiges Ohr
vielleicht die Klage zu vernehmen?


Ihr, vom Grunde der Welten, unbewegte Augen
In den Himmel verschreckt, Starrheit,
Starrheit der Masken
zu ewiger Grimasse erstarrt: ihr seid
die starrsinnige Stille der Erde, ihr  
jenseits des Sommers der Gärten
unter tiefer Sonne, wo Pflanzen die Köpfe zusammenstecken.  
Und immer wenden wir euch gegen den Himmel
zögernd vom Tode zu sprechen,
wir, jeder dem anderen gleich
und im Warten vereint, Nummern und keine Gesichter.
Eines vollkommenen Tages vielleicht
wird eine plötzliche Melancholie euch die Stimme wiedergeben,
wird eine bewegliche Figur sich ins Gedächtnis zurückrufen,
beweglicher als mein Geist,
der mein Geist folgen könnte.

(Übersetzungsvorschlag von Oliver Walther)