Carmelo Bene (1937-2002)
Nach
einer abgebrochenen Schauspielausbildung am Konservatorium in Rom ist
Carmelo Bene seit Ende der 50er Jahre in der römischen
Avantgarde-Theaterszene präsent, anfangs als Schauspieler,
dann
auch als Regisseur und Autor. 1967 tritt er in Pasolinis Edipo Re 1967
auf und beginnt in der Folge, auch selbst Filme zu drehen. Ab Mitte der
70er Jahre konzentriert er sich wieder zunehmend aufs Theater,
produziert aber auch für Radio und Fernsehen. Landesweite
Berühmtheit erlangt er in Italien, als er nach dem Anschlag
auf
den Bahnhof von Bologna 1981 von einem Turm eine Lectura Dantis
hält, die per Lautsprecher in der ganzen Stadt
übertragen
wird.
Während er in Frankreich mit Interesse rezipiert wird (unter
anderem von Gilles Deleuze) und seine Texte fast vollständig
in
französischer Übersetzung vorliegen, ist Carmelo Bene
in
Deutschland weitgehend unbekannt. Keiner seiner Texte liegt in
deutscher Übersetzung vor. Es gibt jedoch zwei
deutschsprachige
Artikel des Frankfurter Theaterwissenschaftlers Gaetano Biccari
über Bene. “Carmelo Bene (1937-2002). Skizze
für ein
Porträt”, in: Primavesi, Schmitt (Hrsg.),
“Aufbrüche”, Theater der Zeit: Berlin
2004, S. 319 und
“Ein Komiker mehr: Über Carmelo Benes
Hamlet-Variationen”, in: “Komik. Ästhetik
Theorien
Strategien”, Maske und Kothurn Heft 4, 2006, S. 274-287.
Der folgende Textauszug ist ein Ausschnitt der 1986 verfassten Novelle
Lorenzaccio. Ausgewählt und übersetzt von Michael
Hack.
Lorenzaccio
Lorenzaccio
ist jene Geste, die sich in ihrem Vollzug missbilligt. Die das Handeln
missbilligt. Und die Geschichte der Medici, wenn sie denn einmal
erzählt ist, vermag es nicht, dieses heroische
Rätsel, das zu ihr gehört, zu verdichten; sie hat
Schlimmeres erlitten und verherrlicht, diese Geschichte. Aber es geht
um zweierlei: Entweder ist die Geschichte eine beispielhafte
imaginäre Fassung der unendlichen Möglichkeiten, die
von der arbiträren Arroganz der geschehenen
„Tatsachen“ ausgestoßen wurden
(Unendliche Zahl fehlgeschlagener Ereignisse); oder aber sie ist eine
Auflistung der Tatsachen ohne Schöpfer, herbeigeführt
also vom Unbewussten der jeweiligen Akteure (um eine Handlung
vorzustellen, ist ein Loch in der Erinnerung notwendig), die, in den
Irrsinn getrieben, bei der Ausführung des Vorhabens
– schwebend in der Leere ihres Traumes, den sie so lange
verfolgt und schließlich erschöpft haben –
genau jenes Vorhaben aus den Augen verlieren und es auf diese Weise
vollständig ver(ent)wirklichen. Fleißige
Mönchlein, umsichtig, präzise, fiebrig von der
uneingestehbaren Schlaflosigkeit des Daseins –
unerträgliche unmenschliche Allgegenwart des Selbst, sich
gegenüber – werfen bei der geduldigen
Arbeit, die Handlung der Vorbereitungen zu erhellen, in den Augenblick
ein ganzes nachdenkliches Leben: die Geste. Und waren nicht mehr.
Für einen Augenblick. Vom Genuss der Leere durch das stets
unlebbare Glück ausgeschlossen; um direkt danach aufzuwachen,
überreizt und unglücklich, verkleidet als berittene
Zigeunerinnen – ob Touristen oder Vertriebene ist unwichtig
– auf den fauligen Wasserstraßen von Venedig, dem
Thermalbad unseres Jahrhunderts für alle diejenigen, die
sterben wollen.
Man kann nicht einfach nichts umbringen. Jeder Brutus ist
mineralisch brutal in jenem Augenblick, der weder lobenswert noch
verwerflich ist; weil er nicht ist. Folglich sind diese nicht ist das
Vorgefallene [sic]. Unendliche zukünftige Vorvergangenheit;
nie Gegenwart. Man spielt keinen Verbrecher. Vergehen ist Fehlen. Das
Vergehen ist die Leerstelle des verbrecherischen Vorhabens; dem
Vorhaben schwindelt vor der Wirklichkeit, im Endeffekt undenkbar und
leer. Ein Vorhaben liebevoll zu pflegen, heißt, sich davon
abzubringen, die Lust daran zu verlieren. Man kann eine Geste wagen,
aber nicht vollziehen. Jede Handlung, insofern sie fassbar ist, ist
undenkbar, und die Geschichte ist eine Hypothese der Vorgeschichte oder
das Wörterbuch des nie Geschehenen. Bleibt die
„Untat“, derer sich jeder Historismus
brüstet: Das Verkennen jeder Tatsache, die der
Häresie der unwirklichen Geschichte des Seins von der Leere
anvertraut wird. Geschichte der Nachbarschaft. Wenn sie wirklich
kriminell und schuldig sind, betreffen uns unsere Geschichten
(Einbrüche in den Augenblick) nicht; sie geschehen den
Nachbarn und ihrer entrüsteten Gleichgültigkeit. Und
es ist ganz sicher nicht die entflammte Wohnung, die brennt, sondern
die bebrillte Neugier des Gegenüber oder die ungehaltene im
Fenster nebenan.
Nummerierung und Benennung ist die Geschichte;
Geschichtsschreibung der Toten, die mich ausschließt. Als
Lebender bin ich der Geschichte unbegreiflich; so wie mich die
Geschichte nichts angeht.
Lorenzino di Pierfrancesco von Medici erwählte dem
ganz jugendlichen Unbehagen am Dasein in der Welt ein Antlitz; eine
einzige besessene Idee, zufällig herausgegriffen aus dem
trügerischen Durcheinander humanistischer Spekulationen, aus
dem allzu eklektischen Brei der ethischen Untersuchungen, von so vielen
einzig mit dem Ziel betrieben, sich darüber auszutauschen.
Eine fixe Idee, in der ein anspruchsvoller Beruf auszumachen ist, das
die eigene Vorstellung von einem Geist ersetzen kann. Vielleicht wird
es – dachte er oder wurde gedacht – eines Tages
reichen, mich von ihm loszumachen, um den tragischen Hirnhut am
Unbewusstsein des Leeren aufzuhängen. Er brauchte einen
Übungsplatz: Rom und der Hof Clemens VII. zum Anfang, das
Scheinbild Gottes par excellence; die heilige Stadt, in der man ganz
geläufig den Traum des Papstmordes pflegte.
Lorenzino zeigt Unruhe und Ungeduld wegen dieses Humanismus,
der das Trauma des nicht anwesenden im Kult der Relikte des Reiches
irreführt, dieser verführerischen Erinnerung an
Ereignisse, die nie waren, außer als gegenwärtige
und vergessene.
Er begann, „die Ruinen zu ruinieren“,
die vom Bogen jenes Konstantin, der mit dem Kreuz im Anschlag die
Lächerlichkeit des Glaubens und der vorübergehenden
Weltlichkeit des Seins legitimierte.
Er wurde fingerfertig, Lorenzaccio. Er übte sich
darin, von seinen Fingern loszukommen, indem er die Geste missbilligte.
Im römischen Mondlicht jener Nacht begann er, mit irgendeinem
Meißel bewaffnet, auf diesen versteinerten Köpfen
herumzuwüten: Seine Geste wurde vom hervorgerufenen
Geräusch vorweggenommen; der Tuffstein zersprang, noch bevor
er erschüttert wurde. Lorenzino, fassungslos, schlug ein
zweites und ein drittes Mal zu, und wieder zerbrachen die Statuen mit
verstärktem Geräusch, bevor sie von seinem
barbarischen Angriff getroffen wurden. Das akustische Ereignis ging dem
gestischen Vollzug voraus. Und trotzdem blieb Lorenzino verbissen,
vielleicht nicht so sehr vom asynchronen Ärgernis erregt,
sondern von dem zweifellos
unverhältnismäßigen Widerhall seiner
Stöße: so übertrieben, als ob die ewige
Stadt wie ein riesiges Tympanon schallte. Lorenzino hatte dieses
Gemetzel der Steinmänner mit seiner Truppe nur improvisiert
und nicht vorhergesehen, und er beging es
überschwänglich, nachdem er abends am Wein
Schiffbruch erlitten hatte. Er wütete gegen die
Unwirklichkeit, die diese Steine zugebracht hatten. Dabei
träumte er davon, seine Hiebe dem metallischen
Schädel seines Onkels des Pontifex zu versetzen, der
– eingewickelt in den verschwitzten Marmor der Laken
– überhaupt keinen Widerstand leistete, aber
widerhallte, und zwar so richtig, mit dem Geräusch, das den
leeren Hüllen von Rüstungen in dem riesigen Saal
eigen ist. Nicht darstellbar.
Am nächsten Tag sinnierte Renzo, der vom
päpstlichen Hof verbannt wurde und dem Zorn von Clemens nur
dank eines Eingriffs des Kardinals der Medici entgehen konnte, auf der
Straße Richtung Florenz über das Theater und den
Schauspieler, als krisenhafte, verwirrte und asynchrone; über
die Körper, in der verhexten Zeit von den Seelen getrennt.
Beruhigt vom Durcheinander der Hufe und der Räder auf der
Straße, die mit dem Geruch der wilden Minze durchsetzt war,
blieb er für wer weiß wie lange stumm, bevor er es
wagte, an sich selbst oder den neben ihm schlummernden Diener das Wort
zu richten: Wenn ich zu ihm spreche, ist es schon gesagt, dachte er. Er
nahm davon Abstand und sinnierte weiter über das Leben auf der
Bühne. Er beneidete, und wie!, die Einfältigkeit der
bürgerlichen Schauspieler oder Komödianten, die,
nachdem sie wieder und wieder geprobt hatten, von fremder Hand
geschriebenes vorzutragen, mit Hilfe einer unbefangenen
Gedächtnisübung, verkleidet wie dieser oder jene
Verdächtige, auf einer Possenbühne, gänzlich
ohne Tortur, nie begangene Verbrechen gestanden, und das vor einem
Publikum von tausend und mehr Intelligenzen im Ruhestand, die tolerant
und unerschütterlich gegen die nagenden Zweifel blieben. Und
doch gab es in dieser Erholungsstunde des staatlichen Irrenhauses
zwischen den zum Pranger Verurteilten und den Beistehenden zwangsweise
eine Übereinkunft, getroffen und gefestigt durch die
allgemeine Vortäuschung: Die Gegenwart, dem Leben nicht
zeitgleich, verlief sich an diesem Theater der Extravaganzen, in den
Kulissen links und rechts umhertobend, in die Vergangenheit und die
Zukunft – wie im gemeinen Alltag – mit dem
gekünstelten, sagten sie, und stümperhaften Beistand
der Markthalle, beim lauthalsigen Ausschreien von Vergehen ohne
jegliche Nötigung. Gar nicht so eigenartig: Diese Unseligen
gaben doch im Endeffekt, eigene Reflexionen vortäuschend, die
Gedanken anderer wieder, wiederholten sie, ohne überhaupt
über sie nachzudenken; sie waren vom Verstehen entbunden,
genau so wie die guten Frauen vergangener Tage die Geheimnisse des
Rosenkranzes im ihnen unverständlichen Latein herunterbeteten
und ihre Reuebekundungen übertrieben, um die Anteilnahme der
allerheiligsten Zuschauer an ihrer Hingabe um jeden Preis zu verdienen.
Sie machen das, was sie wollen, murmelte der Verbannte: was
man kann, das können sie nicht machen. Man kann für
sich den Vorschein einer begreiflichen Gegenwart wollen und auf diese
Weise vorgeben, darüber zu verfügen, aber wer kann,
kann nur das Unmögliche.
Plötzlich gab sein Diener bei einem Hüpfer
der Kutsche etwas von sich, das den Tonfall einer Antwort hatte und
schlief wieder ein. Lorenzino hatte ihn rein gar nichts gefragt: Man
gibt keine Antworten, tröstete er sich anfangs, sondern
Fragen, die an Fragen gerichtet sind. Dann dämmerte es ihm,
dass der Diener während dieses so kurzen wie
plötzlichen Erwachens genau das gesagt hatte, was er, Lorenzo,
nicht gewagt hatte, in dem Verdacht, es als bereits gesagtes zu
entdecken. Und doch, das bereits gesagte hörte sich nicht wie
das seine an, denn die Stimme des Dieners hatte wirklich eine andere
Tonlage und Färbung und war darüberhinaus im
Vergleich zum bewussten Säuseln Lorenzinos verstärkt.
Es kam ihm jetzt ein anderes Ärgernis in den Sinn, das in
gewisser Weise ähnlich war: Es betraf seine jüngste
Vergangenheit als eifriger Student der Römischen Geschichte
mit Hilfe der mörderischen Ethik Plutarchs, dessen
Lektüre den Jugendlichen, wer weiß warum, nicht
verboten war. Nun, im Zuge dieser Studien war es ihm mehrfach passiert,
dass er das, was er im Begriff war, zu notieren, bereits geschrieben
vorfand. Er hatte sich selbst dazu beglückwünscht,
statt sich darüber zu sorgen; dass eine derartig gewichtige
Bestätigung seinem eigenen Urteil zuvorgekommen war,
schmeichelte seinem jungenhaften Stolz nicht wenig. Und
darüber hinaus ermunterte eine so frühe Reife die
ehrgeizigen Hoffnungen seiner Mutter, genauso wie sie treu sorgenden
Gefühle seiner wunderschönen Tante Ginori
erblühen ließ.
Und wieder in Florenz. Lorenzino hatte den Eindruck, sich in
einem Museum zu bewegen, in das frische Luft nur durch die eitle Hilfe
der Mode um jeden Preis eindringen konnte. Alle standen Modell, in der
einen oder anderen unpolitischen Pause, egal ob Republikaner oder
nicht, verzaubert von den großen Künstlern, in der
Zeit zwischen Wein und Vaterlandsliebe. Und in dieser feierlichen
Kampfpause erschienen sie, derart stillgestellt, unserem Medici schon
vergangen; alle, ob Strozzi oder Pazzi. Sie sprachen und schrieben in
Latein, der toten Sprache ihrer eigenen Begräbnisfeiern, und,
ganz plötzlich, wurden sie still und forderten ein starres
Antlitz von den habsüchtigen Demiurgen des Ewigen. Dieser
Humanismus der Vorvergangenen (Bürger und madonnenhafte
Kurtisanen, der Schlaflosigkeit eines Meisterwerks ausgesetzt,
promenierten auf der Suche nach Ruhe in Marmor und Tuch unter der Sonne
jener Tage) beunruhigte Lorenzaccio nicht wenig. Diese Gespenster
– so sagte er es sich häufig vor dem Spiegel der
untergegangenen Gesten – von denen man nicht genau
weiß, wann sie lebten, geboren um gezeichnet zu werden und
dann irgendwo zu verschwinden, vorherbestimmt ausgemusterte
Geldstücke zu zieren, diese Gespenster, wovor hatten sie
Angst? Man müsste ihre Schöpfer danach fragen. Und so
zog unser unruhiger Geist durch die Straßen von Florenz, die
von jener künstlerischen Menge bevölkert war, (die
ihn mied, wehrlos und schwach aufgrunde seines aposteriori);
gelegentlich flüchteten sie sich in Geschäfte
für Künstlerbedarf, zwischen die Farben und Gipse:
metaphysische Requisiten des Selbst im menschlichen Abenteuer der vom
konsumistischen Götzendienst verherten Scheingebilde.Im
Gespräch mit diesen großen Meistern über
die unmögliche menschliche Veranlagung, wuchs in Renzo die
Überzeugung, dass jede Geschichte eine Kunstgeschichte ist;
dass es nur der Sprache gegeben war, das Gegenwärtige
vorzugeben, indem sie im Rhythmus die Harmonie und den Abgrund des
Werdens misst; dass man Zeitgenosse nur als Modell für ein
Fresko ist und dass wir nur so viel wert sind wie die
Schätzung oder ästhetische Neubewertung des einen
oder anderen Meisterwerks. Und abwechselnd erinnerten ihn dieser oder
jener Meister, dass jedes Kunstwerk autobiografisch ist; so behaupteten
sie dessen Einzigartigkeit, von dem das Modell nur eine
beiläufige Kopie ist, auf jeden Fall unbedeutend. Sie
interessierten ihn für die Gifte des Geschäfts, diese
Meister. Hier, ein beispielhaftes Purpurrot: für das Blut und
die Kleider des Erlösers vor einem Himmel aus Lapislazzuli;
ein Rot, das für den glücklichen Ausgang jedes
Martyriums und jeder Kreuzigung unverzichtbar ist. Die Enthauptung
dieses Herrn, das heißt die Kopie, natürlich
entstellt, die er, Renzo, bewunderte, hatte lächerlich wenig
gekostet, wenn man sie mit dem Ausgangsmaterial dieses Originals
vergleicht, Arbeitsleistung nicht eingerechnet. All das Blut, das in
den kaiserlichen Theatern des folgenlosen Glaubens vergossen wurde, und
diese zahllosen Gespenster waren nichts in Gegenwart des
unschätzbaren Rot der rechtsgültigen christlichen
Tradition. Lorenzino lernte auf diese Weise die Geschichte, auf den
Schwellen jener Brutstätten der Renaissance, ein Auge auf die
Staffelei der Archetypen geheftet, das andere auf den violetten Himmel,
dieses klare oder bewölkte Draußen, das so richtig
schön kostenlos war.
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