Fussnote




    ; ove per poco
il cor non si spaura*



* ; wo sich für kurze Zeit / das Herz nicht ängstigt. Das Semikolon muß hier mitzitiert werden: Es steht, sowohl als Satzzeichen – weder Punkt noch Komma, die unverortbare Grenze zwischen diesen Trennungs-, (Grenz-)Markierungen bildend –, als auch als rein graphisches Erlebnis für die feine Bindung, die Leopardi hier in L’Infinito zwischen Fiktion und Herz dichtet. Der zitierten Stelle geht ein Gedankenspiel oder Gedanke –„nel pensier mi fingo“– mit dem Unendlichen voran. Und erst in diesem fingierenden Denken, in diesem Hinwegdriften kann konstatiert werden, ängstigt sich das Herz nicht. Die Angst stellt hier so etwas wie den Urzustand, das Standardbefinden, des lyrischen Ichs dar.
Diese Zeitung will nichts anderes als denken, fingieren, fingierendes Denken, Denken und Fiktion, die ja nach dem Zitat immer mit-, unter- und einander verbunden sind, fast, als wären sie mehr als nur verwandt, sondern einander unumgänglich. Denn wenn Denken zugleich der Ort der Fiktion ist, dann ist Fiktion immer auch ein Denken und Denken kann, un- oder auch bedachterweise, rasch in Fiktion abdriften.
Bleibt bloß noch die Angst vorm leeren Blatt zu überwinden, die Angst vorm weißen Papier. Seltsames Befinden, das jeder, der schreibt, zu gut nur kennt, das jeder immer aufs neue verflucht, weil selbst jahrelange Praxis dem nicht abhelfen können. Noch seltsamer vor allem, da Leopardi in diesem Gedicht eine Einstellung zu der Leere dichtet, die dem entgegenläuft. Es gibt eine Lesart, nach der das Gedicht sich erst in der letzten Zeile entfaltet und noch darüber hinaus auf der folgenden weißen Leere des Papiers: Die letzte Zeile „E il naufragar m’é dolce in questo mare“ (Und der Schiffsbruch ist mir süß in diesem Meer) ist die erste Zeile in diesem Gedicht mit dem Titel „Das Unendliche“,  die das Unendliche nicht deskriptiv angeht, sondern vollführt: zwischen süß und dem salzigen Meer liegt ein unüberbrückbares Universum, das Unendliche wird hier zum ersten Mal bildhaft, zum ersten Mal in einer Zeile verdichtet, die sich noch im selben Zug sprengt und in die Leere darunter ergießt. Das Gedicht „L’infinito“ verdient als Dichtung den Titel erst mit dieser letzten Zeile, die sich, mit zwei Silben mehr als die vorhergehenden, in die papierne Leere wirft. Dieses Gedicht, darauf zielt jene Lesart, und vielleicht jedes Gedicht, steht erst unter diesem Block von Zeilen, unter diesem Block aber mit ebenjenem Titel: in der Leere, in der unbeschriebenen unbestimmten Leere des reinen Blattes, die noch alles bereithält, eine Unendlichkeit an Möglichkeiten. (age)



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