Ozus Fernseher

von Philipp Stadelmaier


le cinématographe n’a jamais voulu faire
un événement
mais d’abord une vision

    Jean-Luc Godard, Histoire(s) de cinéma, (1a)


I

Im Jahre 2003 dreht der iranische Regisseur Abbas Kiarostami (geb. 1940), ausgestattet mit einer kleinen DV-Kamera, an diversen Stränden der Welt eine Hommage an den japanischen Altmeister Yasujiro Ozu (1903-1963). Bei FIVE – DEDICATED TO OZU handelt sich um einen 75-minütigen Film, der aus fünf ungeschnittenen Blocksequenzen besteht: 1. ein Holzstück, das von den Wellen langsam ins Meer gezogen wird, sich in zwei Stücke spaltet, von denen das eine ins Meer hinaustreibt, während das andere an den Strand zurückgetrieben wird; 2. eine Strandpromenade, auf der verschiedene Leute spazieren gehen, bis schließlich eine Gruppe älterer Herren stehenbleibt, um dann zu verschwinden und den Bildkader verwaist zurückzulassen; 3. unbestimmte, möglicherweise als Hunde zu identifizierende Formen an einem winterlichen Strand, die herumstreunen und sich schließlich in einem allmählichen Weiß-Werden des Bildes erst in unscharfe schwarze Punkte verwandeln und dann langsam auslöschen; 4. eine Gruppe Enten, die von der einen zur anderen Seite durch das Bild läuft, und dann wieder zurück; 5. schließlich das nächtliche Meer, auf dem sich der Mond spiegelt, ein Gewitter, ein Froschkonzert…
Die Länge dieser fünf Sequenzen variiert, die letzte dauert etwa eine halbe Stunde. Insgesamt fünfundsiebzig Minuten reiner Evidenz und Schönheit des Kinos: das Kino ist da und schaut; die Kamera steht auf einem Stativ am Strand und nimmt auf; die Kamera läuft, der Film entsteht. In der enormen Einfachheit seiner Produktion ist FIVE aber gleichzeitig eine komplexe Reflexion über das Verhältnis zwischen Kino und Wirklichkeit, bzw. deren gegenseitige Affektion; Reflexion auch über Film und Malerei, über das Feste und das Fluide.
In FIVE hat das Kino gegenüber der Wirklichkeit eine reine Disponibilität. Der Film lässt sich treiben in der entspannten Erwartung einer frei gewordenen Zeit, einer Dauer, die ganz für sich selbst und ohne genauen Zweck besteht (nicht Dauer einer bestimmten Handlung ist oder Warten auf deren Eintreten): aufnehmen ohne Zwang, einfach nur zuschauen. FIVE ist gemacht aus einem Blick: er ist die Geduld, die Penetranz eines Blickes, durch den im Bild sich eine bestimmte Dramaturgie entwickeln kann, die die Penetranz belohnt. Man könnte von einer Performanz des Blickes reden, dessen Beharrlichkeit und Geduld einem Ereignis die Möglichkeit bietet, sich einzuschleichen, ohne sich gleich völlig zu enthüllen und zu offenbaren. Es wird erst nachträglich sichtbar, bzw. beim Schnitt durch Bearbeitung des gesamten aufgenommenen Materials erzeugt (in dem es mit einem Anfang und einem Ende versehen wird). FIVE ist eine Art Archiv von Momenten, die man normalerweise nicht gesehen hätte und die von der Kamera vor der Unsichtbarkeit gerettet worden sind. Das Kino von FIVE wird getrieben vomWunsch der Sichtbarmachung.
Alles andere als willkürliches Zusammentragen von Wahrnehmbarem, bietet FIVE ein genaues Dispositiv, in das Kiarostami schließlich sein zusammengetragenes Material integrieren kann. Sicher geht es hier nicht einfach nur darum, die Wunder der Wirklichkeit und der Natur zu filmen, uns eine Reihe auserlesener Momente zu präsentieren. Das Dispositiv des Blickes (um des Blickes willen) wird um die Matrix des digitalen Bildes ergänzt, in dem eine Transformation stattfindet.
Kiarostami hat FIVE ausschließlich auf DV (Digital Video) gedreht. Die Möglichkeit, billiger und flexibler zu produzieren und mehr Material ansammeln zu können, konzentriert die Kontrolle ganz auf den Filmemacher. Der ganze Einsatz dieser Art von Ein-Mann-Kino besteht in dieser Kontrolle, die der Filmemacher nun aufs Spiel setzen muss. Zum einen dadurch, den Blick schweifen zu lassen, einfach die Kamera laufen zu lassen und zu warten. Zweitens dank einer bestimmten Qualität des Bildes. Im Gegensatz zum richtigen Film wird bei DV die Materialität der Wirklichkeit nicht mehr als ein Abdruck von Materie in einer materiellen (photochemischen) Emulsion fixiert, bei dem die Nuancen der Materie in ihrer Tiefenräumlichkeit durch das vom hellsten zum dunkelsten gehende, ungebrochene Lichtspektrum erfasst werden, das gleichzeitig jedes Ding mit den anderen Dingen um sich herum verbindet und sie in einen gemeinsamen Raum einfasst, so dass André Bazin vom Filmbild als einem „ontologischen Abdruck der Wirklichkeit“, wie etwa von einem Gipsabdruck, sprechen konnte. Das digitale Bild hat zwar eine große Schärfe (so dass man auch den entferntesten Hintergrund noch klar erkennen kann), aber das entfernteste rückt dadurch auch gleichzeitig in den Bildvordergrund auf, gewissermaßen auf das zweidimensionale Pixelraster, das sein Objekt „auflöst“. Die alte unzerteilbare Kontinuität von Materie und Licht und deren auf richtigem Film für immer fixierten Relationen gehen verloren, was bleibt ist eine aufgelöste, gewissermaßen entmaterialisierte, nackt gewordene Welt; so nackt, dass sie, fluide geworden, zwischen den fixierten Pixeln hin und her fließt. Zwischen den Dingen gibt es praktisch „nichts“ mehr, kein sie verbindendes Lichtspektrum, keinen Raum, nur die unsichtbaren, mikroskopischen Partitionen, in die das Bild zerfallen ist, und die sich in ständiger Bereitschaft für den Durchfluss von Lichtfragmenten befinden. Das digitale Kino verliert seine Tiefenschärfe1 und wird dementsprechend Tableau, Oberfläche, auf dem die Gegenstände, unendlich nah und gleichzeitig unendlich weit voneinander entfernt, zusammenfinden.
In der digitalen, niedrigauflösenden Matrix des Bildes von FIVE verschwimmt die Materie in groben Licht-Flecken. Das Farbspektrum bleibt relativ limitiert (blau, weiß, grau, grün) und schreibt sich in den gemeinsamen Fond des Meeres ein, das für jede der fünf Sequenzen den Hintergrund bildet: FIVE ist ein Film über das Meer-Werden des Kinos, sein Rauschen, das digitale Rauschen der groben Pixel, zwischen denen die Welt hin und herfließt. Vor diesem beweglichen, flüssigen, großräumig über die Bildoberfläche sich verteilenden, leitmotivisch alle fünf Episoden durchziehenden Fond, der das Bild plättet und zum zweidimensionalen Tableau einebnet, wird durch die digitale Substanz des Bildes die Affizierung der Wirklichkeit durch das Kino aufs beste inszeniert: je länger die Enten durch das Bild watscheln, desto unwesenhafter werden sie als Enten, und desto eher werden sie zu Figuren und Formen des Kinos, digitalen Enten, die das Bild mit ihren Farben anmalen: sie watscheln ins Kino, werden Kino, geben ihr kollektives Enten-Sein langsam auf, in dem Maße, in dem an ihnen eine jeweils individuelle Gangart festellbar wird. Wer lange genug beobachtet, akkumuliert nicht länger Wirklichkeit, sondern lässt sie sich im Kino auflösen, die eine Art ciné-peinture geworden ist, jenseits der alten Opposition von Wirklichkeit / Kinobild. FIVE ist eine Galerie unter offenem Himmel.2
Dieses Kino der Dissolution von Materie tendiert selbst zum Verschwinden. Die letzte Sequenz ist in diesem Sinne die entscheidende. Eine halbe Stunde lang schwarz, nur vereinzelt unterbrochen vom Flackern des Mondes auf der Oberfläche des Wassers, begleitet von einem Gewitter und einem Froschkonzert und einigen Blitzen, die die Dunkelheit zerreißen. In dieser Sequenz interessiert sich Kiarostamis Kamera wirklich nur noch für das Wasser, und das, was darauf projiziert wird. Hier wird das Meer die Leinwand einer neuen Art von Kino: die Natur ist hier selbst ein Kinosaal geworden, das Kino löst sich in der Natur auf und umgekehrt. Der Ertrag der Penetranz des Blickes, die noch bis in die tiefste Dunkelheit ihre Obsession des Sichtbarmachens und Sehenwollens fortträgt, ist die Gewinnung einer neuen, digitalen Substanz, Symbiose aus Wirklichkeit und Kino.
Aber nicht nur der Inhalt des Bildes selbst, sondern auch sein Rahmen wird von der Gefahr des Verschwindens affiziert. In der ersten Sequenz ist die Kamera noch beweglich, Kiarostami untersucht sozusagen von nahem die Substanz, die in den kommenden Sequenzen die Substanz des Bildes selbst werden wird. Hier ist der Rahmen bereits fluide, aber dafür ist das Wasser nicht abstrakt, sondern es tut etwas konkretes, es treibt den Holzklotz hin und her. Der feste Kader manifestiert sich dann in den kommenden drei Einstellungen. Im Verhältnis des fixen, unbeweglichen Kaders zu der beweglichen und fluiden Substanz des Meeres tritt FIVE hier aber erneut in die Passage zwischen dem Statischen und Fortdauernden, der Penetranz des Blickes und dem Fluiden ein. Der Rahmen läuft schließlich Gefahr, sich aufzulösen – in der Episode mit den Hunden wird das im Weiß-Werden des Bildes bereits sehr deutlich. Ob der Rahmen in der letzten Episode noch statisch bleibt, oder ob Kiarostami die Kamera bewegt, kann in der Dunkelheit, in die das Bild getaucht ist, nicht mehr entschieden werden: die Fluidität des Rahmens ist hier auf seine Spitze getrieben. Wenn Kiarostami noch die Idee eines Rahmens zurücklässt, dann ist es das unendliche Meer selbst.

II

In den Fluktuationen des Rahmens ist dieser Film Yasujiro Ozu gewidmet.
Ozus Geschichten erzählen alle dasselbe. Sie handeln ausschließlich und in äußerster Strenge von dem Vergehen von Zeit: dass man sein Leben damit zubringt, Zeit zu verbringen, und schließlich, womit man sein Leben zubringt, um diese Zeit zu verbringen. Völlig entdramatisiertes Alltagsgeschehen: es geht darum, die Tochter zu verheiraten, sich einen Fernseher oder eine Waschmaschine anzuschaffen, die Kinder zu besuchen, die Großeltern bei sich aufzunehmen, einen Partner fürs Leben zu suchen… Die signifikanteste Geste, unter die sich Ozus Kino möglicherweise subsumieren lässt, ist das Wedeln mit dem Fächer der beiden Großeltern, die in der Welt nichts mehr zu tun haben, in TOKYO MONOGATARI (Die Reise nach Tokyo, 1953). Nichts kann deutlicher machen, dass es im Kino Ozus darum geht, die Zeit vorbeizuwedeln, mit einer reglmäßigen, ruhigen Bewegung. Das allein ist der Sinn des Rituals, und die Filme Ozus sind voll von Ritualen, Wiederholungen: Menschen beim Essen, beim Rauchen, beim Saketrinken…
Man könnte von Ozu als einem Konsumkritiker des Nachkriegsjapan reden, als Chronist eines Epochenwandels, in dem das Land sich extrem amerikanisiert hat, als Fortschrittskritiker, der das Leben als einzige endlose Wiederkehr beschrieben hat, aber man würde das metaphysische Wesen dieses Kinos verpassen. Seine Protagonisten haben ein Empfinden für die Nutzlosigkeit und die Flüchtigkeit ihres Tuns und ihres ganzen Wesens, aber keinerlei Bedürfnis, sich dagegen aufzulehnen; auf ihnen allen lastet die schiere Resignation. Die Metaphysik spielt in den Gesprächen dieser Menschen keine Rolle. Das Älterwerden, der drohende Ruhestand, die Nutzlosigkeit des Alten für die eigene Familie und die Gesellschaft und ein Tod in Einsamkeit, all das wird mit Gleichmut und Gelassenheit ertragen: Diese Figuren haben sich an keinem Fatum abzuarbeiten, noch sind sie bestimmt durch die Mechanik einer dramatischen Kasualität. Ihr Leben ist ein einziger, unteilbarer, lächerlicher und flüchtiger Moment im Laufe der Zeit. Diesen Moment herzustellen und ihn so rein, so ruhig wie möglich zu halten, während er über zwei Stunden Film ausgedehnt wird, ist die Aufgabe der sich wiederholenden, rituellen Handlungen.
So wird das Rauchen einer Zigarette in diesem Kino eine Geste von stupender Luzidität, eine Reflexion über das Sein: Vergehen von Zeit, Auflösen von Materie in Luft, gleichmäßiges, sichtbar gemachtes Atmen, weiteratmen. Die Physik allein macht im Kino von Ozu die Metaphysik sichtbar, die einfach nur im Voranschreiten von Zeit besteht. Diese steht gegen das Zeitregime der Langsamkeit und der Wiederholung; da es aber bei Ozu nie Rückblenden gibt, da sich Ozus Kino zeitlich vollkommen linear erstreckt, schreibt sich dieses Voranschreiten in die Rituale ein, denen es ihren gespenstischen Charakter gibt: das Ritual kann auch die Handlung von Toten sein, in der mechanischen, automatisierten Wiederholung einer Geste vor dem Hintergrund des Zuges der Zeit; in seiner Wiederholung enthält es gleichzeitig das kostbare, zerbrechliche Leben, das darin noch um so klarer, reiner, intensiver, fernab jeder psychologischen oder sozialen Ausschmückung zu Tage tritt.
Dieses Kino des Rituals ist zwar das Kino einer Gemeinschaft, aber einer, deren Mitglieder essentiell einsam sind: auch deswegen ist es schwierig, in Ozu einfach nur einen Chronisten einer bestimmten Gesellschaft zu sehen. Ein typisches Gespräch bei Ozu: Jeder ist, völlig für sich und in sich ruhend, in einer eigenen Einstellung zu sehen, und da Ozu ab den 40er Jahren die Kamera in seinen Filmen nicht mehr bewegt hat, bleibt jeder in seinem Kader und ganz für sich. Das Kopfdrehen, durch das der andere Gesprächspartner anvisiert wird, ist langsam und schwer; manchmal werden die Figuren auch nur schräg von hinten gefilmt, jede ausdruckslos vor sich hinstarrend und in sich selbst versunken. Vorzugsweise filmte Ozu seine Figuren in Ruhe, beim Sitzen. Genauso wie im Kino von Carl Theodor Dreyer kann sich die Seele nur in der Statik, in der Langsamkeit, in der Schwere der Bewegungen der Figuren entfalten: sie muss durch die schwere Masse des Körpers hindurch, die sie einschließt. Die Seele ist diese Langsamkeit und diese Schwere der Bewegung, sie ist die unendlich langsame Geschwindigkeit der Körper, ein stilles, klares, untrügliches, wertvolles und kaum vorhandenes Zeichen für ihre Belebung.
In einem Kino, in dem für individuelle Psychologie kein Platz bleibt, da das Sujet derart essentiell ist, erkennt man im Gespräch mit dem anderen stets nur sich selbst und die eigene Einsamkeit wieder: keine psychologische, eine existentielle. Ozus Figuren existieren in zwei Geschwindigkeiten, die nicht zueinander finden. Die Seele hat nicht dasselbe Tempo, auch nicht denselben Vektor wie das Vergehen des Lebens, die Zeit. Die Einsamkeit der Menschen Ozus ist die Einsamkeit der zeitlosen Seele im Vergehen von Zeit.
Für die folgenden Betrachtungen werden wir uns hier auf einen Film von Ozu beschränken, nämlich OHAYO (Guten Morgen) von 1959. Im Vorort einer größeren Industriestadt lebt die Familie Maruyama; die Kinder Minori und Isamu wünschen sich unbedingt einen Fernseher, aber die Eltern weigern sich standhaft. Mit ihren Freunden gehen sie regelmäßig zu einem dubiosen Nachbarspärchen (sie Nachtclubtänzerin, er Tagedieb), um dort fernzusehen, wofür sie regelmäßig Ärger kriegen. Um ihre Eltern zu zwingen, einen Fernseher zu kaufen, treten sie schließlich in einen mehrtätigen Redestreik. Erwachsene sagen ohnehin immer nur unnötige Sachen, meinen sie; „Guten Morgen“, „Guten Abend“ etc. Die Eltern reagieren erst wütend, schließlich resignierend; die Kinder verschwinden und werden von ihrem Englischlehrer wiedergefunden; die Eltern kaufen einen Fernseher, aber der Vater ist noch genauso grob zu ihnen wie schon davor. Überhaupt, das Leben geht weiter. Die anderen Geschichten, die der Nachbarn etwa, Nebenhandlungen, aber durch kleine Szenen immer wieder eingeflochten, gehen ebenfalls weiter: Und auch nachdem der Streit beigelegt ist, dauert der Film noch eine Viertelstunde, in der deutlich wird, dass sich überhaupt nichts geändert hat. Die Verweigerung des Grußes hat keinerlei Konsequenzen, erzeugt keinen Bewusstseinswandel bei den Erwachsenen, die auch weiter nur „unnötiges Zeug“ reden. Die Rebellion der Kinder lässt sie als angepasste und völlig konforme Wesen zurück, die wieder brav die Nachbarn grüßen. Das Grüßen als Ritual ist so mächtig, dass seine Verweigerung zwar unangenehm auffällt und bei den Nachbarn abfällige Reaktionen hervorruft, die dadurch entstandene Wunde sich aber schnell wieder schließt: der Zug der Zeit ist zu stark. Das unwichtigste, unnötigste, lapidarste wird im Kino von Ozu zum essentiellsten. Die ganze Gewalt der Zeit, die grausame Sinnlosigkeit ihres Vergehens, kann nur durch solche Repetitionen und Rituale, den Versuch, etwas festhalten zu wollen, in irgendeiner Art gebändigt und menschlicher gemacht werden. In ihrer Spießigkeit finden diese Figuren ihre ganze Würde und die Kraft, ein Leben, das permanent von seiner Bedeutungslosigkeit und Flüchtigkeit bedroht ist, hinzubringen. 
Diese Ordnung der Einsamkeit, in der sich die Menschen im anderen als sich selbst und gleichzeitig als von sich selbst unendlich entfernt (dementsprechend die leere, unpsychologische Innerlichkeit und das Exemplarische dieser Menschen, dementsprechend die Zeit der Seele gegen die Zeit des Lebens) anerkennen, stellt die Sehnsucht nach dem Fernseher als eine Bedrohung dieser Ordnung dar (in der „bedrohten Ordnung“ wie auch im weiter oben angesprochenen Streit aus Fortschrittsgeist im Nachkriegsjapan und der Figur der Ewigen Wiederkehr des Rituals erreichen diese Filme dann doch eine gesellschaftspolitische Dimension, die dieses Kino auch nötig hat, damit sein essentiellerer Einsatz in ihr wie ein Ton, ein Echo wiederhallen kann; die Politik ist bei Ozu gewissermaßen das Instrument der Metaphysik.) Aber selbst die Anschaffung des Gerätes verändert die Familie nicht. Die absorbierende Ordnung von Ozus Ästhetik scheint dafür zu sorgen. Denn zunächst bleibt der Rahmen des Fernsehers ein Rahmen neben vielen: auch Ozus Raum ist ritualisiert. Ozus „formales System“ beruht vor allen Dingen in der Restriktion der Kamera auf totale Bewegungslosigkeit. Der Meister benutzte gegen Ende seiner Karriere praktisch nur noch das 35mm-Objektiv, das seine Figuren (bevorzugt im Sitzen und immer auf Augenhöhe gefilmt) in eine überall gleichmäßig strukturierte, gleichmäßig beleuchtete Räumlichkeit einfassen konnte. Der Rahmen ist das konstitutive Element seines Kinos. Nicht nur, dass sich die Kamera nie bewegte: Ozus Raum hat quasi keine Tiefe, da er permanent in weitere Rahmen unterteilt ist, besonders durch Fenster- und Türrahmen, und/oder durch andere viereckige Einrichtungsgegenstände. Überhaupt spielen Ozus Filme eigentlich nur in Innenräumen. Die Wiederholungen in der Zeit zeichnen sich in Wiederholungen im Raum nach, durch eine Wiederholung des Rahmens im Rahmen. Man könnte Ozu vielleicht für diese ästhetische Radikalität seines Kinos Formalismus vorwerfen, aber der Rahmen regiert hier nicht zum Selbstzweck, also nicht, um hier einfach eine Selbstreferenz des Kinos, d.h. eine Selbstabbildung des Regie-Tyrannen, des göttlichen Spielleiters des Welttheaters (der Verdacht liegt bei dem durchgängigen Sujet eines Kinos der Metaphysik nahe) einzurichten. Die absolute, im wahrsten Sinne des Wortes „unverrückbare“ Strenge des Rahmens ist nicht etwa eine Metapher für das Einbetten des Menschen in sein Schicksal: im Gegenteil, der Rahmen der Kamera ist nur ein Rahmen unter weiteren, in die er sich unterteilt. Das Kino soll sich hier praktisch unbegrenzt ausdehnen, bis in den letzten Winkel des Raumes und der Welt. Das Kino wird hier zum abstrakten, rein formellen, sich auflösenden Skelett, das die Evidenz des nackten Menschen, dem schieren Vergehen (oder Zirkulierenlassen) von Zeit ausgesetzt, enthüllt.

III

Das Fernsehen macht den Zuschauer: der Wunsch nach dem Fernsehen ist der Wunsch, Zuschauer, Beobachter zu werden, aus der Welt (des Rituals) herauszutreten, sich dem Fließen von Zeit hinzugeben, das von sich selbst wirklich unterschiedene, das Fremde ansehen zu können, ohne sich dabei durch das ebenmäßige Zirkulieren der Rituale immer nur im anderen und damit in der eigenen Einsamkeit widerspiegeln zu müssen.
Kiarostamis Auseinandersetzung mit Ozu könnte diese ästhetische Befreiung organisieren und das Kino auf eine (andere) Art und Weise „zum Verschwinden bringen“, so dass sie auch gelingt. Zunächst einmal hat Kiarostami in FIVE im Rahmen, der ihm zum Meer geworden ist, der sich im Begriff seiner unendlichen Ausdehnung und Verflüchtigung befindet, das Kino Ozus durch seine Widmung erschüttert und dem Ertrag dieses Bebens nachgespürt. Die abstrakte Tiefe von Ozus Raum hat er in die platte Oberfläche des digitalen Bildes verwandelt, dem Vergehen von Zeit als metaphysische, sich die Menschen unterwerfende Grundkonstante des Lebens hat er die plastische und konkrete, von jeder objekt/subjektgebundenen Abhängigkeit befreite Dauer dieser Oberfläche, die nur durch den Blick und das Zuschauen des Menschen entsteht, aber selbst keine Menschen beinhaltet, entgegengestellt. FIVE muss man sich anschauen.
Vergleicht man das Werk des einen mit dem (hoffentlich noch lange nicht vollendeten) des anderen, dann lässt sich folgendes sagen: wenn Ozu durch die Strenge seiner Mise-en-scène über jeden Quadratmillimeter der Leinwand, über jede winzigste Geste seiner Schauspieler die Kontrolle behält, gibt es bei Kiarostami nur das Dispositiv des Blickes und die Abwendung von der Mise-en-scène, die Hinwendung zur Wirklichkeit, die Arbeit mit Laienschauspielern, ganz ohne oder nur mit sehr ungefährem Drehbuch. Man könnte sein ganzes Werk als einzigen durchgängigen Film auffassen, was man von Ozu sicher auch sagen könnte. Beide Regisseure teilen einen (im besten Sinne) Mangel an Einbildungskraft, der ihrem Werk eine genaue und klare Linie verleiht, in dem jedes Werk die Präzision einer allgemeinen Haltung darstellt. Ozus Radikalität besteht in seinem programmatischen Formalismus. Kiarostamis Radikalität besteht in der immer genaueren Formulierung der Frage, welche Rolle das Kino in der Wirklichkeit spielen könnte, welchen Platz es sich darin gibt, nun, da es nicht mehr, wie bei Ozu, die Welt einfach bis in den letzten Millimeter der Leinwand macht, entwirft.
Die flüssige Substanz von FIVE gibt eine mögliche Antwort darauf: das Kino wandert selbst in die Wirklichkeit und in die Welt, bzw. wandelt sich dieser auf bescheidene Art und Weise an und affiziert diese gleichzeitig, wird digitales Film-Material-Meer, rezeptive Fläche, auf dem in der letzten Sequenz, dieser Projektionsszene, das Licht flackert; die Projektionen auf dem Wasser sind Projektionen eines Kinoaals der Wirklichkeit, der sich hinter der Leinwand weiter ausdehnt: man kann sich in diesem herrlichen Film ergehen nach Lust und Laune, herumvagabundieren, rasten, schlafen, am Strand liegen, mit Enten spielen, baden, in See stechen (das zweidimensionale Leinwand-Segeltuch setzen); tatsächlich erschafft dieser Film einen ruhigen, unaufgeregten Raum, noch ungesättigt mit Zeichen, sondern abstrakt, flüssig, veränderbar, leicht, formbar – einen Raum, den der Zuschauer selbst mit was auch immer ausfüllen kann; der Zuschauer wird an den Film angeschlossen… FIVE ist nicht die Skizze von einem Film, sondern er ist die Fläche zu einem Film, er bietet einen empfänglichen Fond, und dieser könnte noch von anderen Phantom-Hunden, die zu schwarzen Punkten werden, von anderen Mensch-Enten, von anderen digitalen Fantasmen jeglicher Art bevölkert werden, deren eines der Zuschauer selbst wäre.3
So gesehen ist FIVE ein Film über das Zuschauer-Werden, und damit die Erfüllung des Traumes der beiden Jungen aus OHAYO, der sich in Ozus formeller und abstrakter Welt nicht verwirklichen konnte, dort, wo der Fernseher als Rahmen beim Rahmen aufhört. Der Wunsch nach dem Fernseher, so wie er in FIVE erfüllt wird, ist der Wunsch nach dem Film-Werden der Welt, ist der Wunsch nach einem Fernseher ohne Rahmen. Die paradoxe Voraussetzung für diese ästhetische Befreiung: Das Kino muss aus dem Rahmen des Kinos, das Ozus Welt komplett durchstrukturiert hat, und dementsprechend kann man sagen: aus dem Rahmen der Welt (Kino, das heißt bei Ozu ritualisierte Welt, die den Fernseher als damals noch unausgegorenes Medium völlig vereinnahmt, weswegen hier von einem Widerspruch Kino-Fernsehen nicht im klassisch medialen Verständnis die Rede sein kann), heraustreten, d.h. der Rahmen muss sich auflösen, Kino und Welt, im Rahmen Ozus zusammengeschweißt, müssen sich trennen, Selbständig werden, als Voraussetzung dafür, sich frei und offen gegenübertreten zu können. Welt und Kino müssen sich zunächst jeweils für sich und gegeneinander emanzipieren, um neue, komplexere, lebendigere Verbindungen miteinander eingehen zu können.4

IV

Am deutlichsten wird das Heraustreten des Kinos aus sich selbst dort, wo es in Form seiner Protagonisten seine Vertreter in die Wirklichkeit hineinschickt. Das Werk Kiarostamis ist voll mit derartigen Beispielen. Die Hautpfiguren seines Werkes sind entweder Filmemacher selbst (UND DAS LEBEN GEHT WEITER, QUER DURCH DEN OLIVENHAIN (1994), ABC AFRIKA (2001), TEN ON TEN (2003) – in den letzten beiden Dokumentarfilmen ist Kiarostami seine eigene Hauptfigur) oder nicht weiter definierte Teheraner Intellektuelle bzw. Journalisten (DER GESCHMACK DER KIRSCHE (1996), DER WIND WIRD UNS TRAGEN (1999)), Substitute des Kinos, transparentes Kino, das sich auf den Weg macht, um sich der Begegnung mit der Wirklichkeit, und das heißt, mit der Fremde zu stellen.
Das Wechselspiel zwischen dem Kino und dem, was es zu filmen hat, gibt den Rhythmus des Herzschlages von Kiarostamis Kino an. Wie wir in manchen Making Ofs seiner Filme erfahren, mag es Kiarostami, in Dialogszenen den Schauspielern selbst die Repliken zu geben – und geht dabei auch mit seinen Laien nicht immer zimperlich um. Kiarostami arrangiert die Wirklichkeit des kleinen Bauerndorfes in DER WIND WIRD UNS TRAGEN (fortan DWT) nach seinem Geschmack; seine herrliche Blasiertheit und seine Strenge sind aber nur Bestärkung seines Status als Fremder, der nicht versucht, die Wirklichkeit von vornherein dem eigenen Blick zu assimilieren, sie nicht „als etwas bestimmtes“ zu sehen und ihre „natürliche Unschuld“ nicht ideologisch-mitleidsvoll auszunutzen im Sinne einer „objektiven Wahrheit des Kinos“. Wie im Kino von Rossellini gibt es bei Kiarostami die Wirklichkeit immer nur als eine „durch ein Bewusstsein gefilterte“. Das Kino kommt als Kino, die Figuren als Abgesandte des Kinos in eine fremde Gegend, in der sie gleichzeitig ganz allein und ganz mit der Welt sind, und das eine nur auf Grund des anderen. Das Kino Kiarostamis ist die unendlich schwere, aber fruchtbare Gratwanderung zwischen diesen beiden Zuständen, und das Flattern dazwischen ist die Lebendigkeit seines Kinos: nichts festlegen, nie so tun, als hätte man verstanden, als sei man endlich auf einer Seite angekommen. Die Schönheit seines Kinos kommt nur aus seinem Warten, und beides ist Ausdruck dieser Lebendigkeit.
So der Reporter in DWT, der in ein kleines Bergdorf kommt, um dort die Bestattungszeremonie einer unglaublich alten Frau zu photographieren. Den Dorfbewohnern erzählt er, er und seine Kollegen würden einen Schatz suchen. Aber die alte Frau stirbt nicht, und die Journalisten sind gezwungen, immer länger zu bleiben. Zeit, die Gegend kennenzulernen und Bestandteil von ihr zu werden; Zeit, den Menschen in ihr zu begegnen und ihr Leben kennenzulernen, ihre Gemeinschaft, ihre Rituale, ihre Gespräche zu begleiten und daran teilzuhaben, ohne jemals mit ihnen zu verschmelzen. Am Ende dieses Films aber steht keine moralische Läuterung des Großstadtmenschen, sondern wie ein Schelm, Zigarette im Mundwinkel, ganz in Papparazzi-Manier, schleicht sich der Reporter an den Todeszug heran (als die Alte dann schließlich doch stirbt) und schießt seine Aufnahmen, erfüllt seinen Auftrag. Daraufhin, in der letzten Szene des Films, wirft er einen fosilen Knochen in einen Fluss: er nimmt das langsame, gemächliche Dahinfließen des Lebens, dessen Bestandteil er geworden ist, wieder auf, aber nur der Knochen, nicht er selbst; er hat sich immer nur in dem Maße assimiliert, dass er sich die Möglichkeit behalten hat, einen Schritt zurückzutreten, um Bilder zu machen, bzw. zu filmen. Denn Warten bedeutet (Bilder) aufnehmen.
Wie bei Ozu gibt es auch bei Kiarostami Reprisen. Der Journalist in DWT muss immer wieder in aller Eile mit seinem Jeep aus dem Dorf heraus auf den Friedhof fahren, dem höchsten Punkt in der Gegend, um mit seinem Mobiltelefon mit seinen Vorgesetzten in Teheran telefonieren zu können: immer wieder begleitet von der gleichen langen Kameraeinstellung, in der der Jeep die Kurve zum Hügel nimmt und dann die Steigung hochfährt – ein komisches Initiationsritual, um Anschluss an das „Universum aus Kommunikation“ zu finden, das es ja, wie eine alte Frau ihm sagt, hier oben längst gibt, unter anderen, archaischeren Formen, in die der Journalist immer nur mit einem Bein wird eintreten können.
Diese Wiederholungen sollen das Kino für die Wirklichkeit sensibilisieren, sollen ihm helfen, sich besser zu positionieren, besser sehen zu können. Man könnte fast von einem didaktischen Effekt sprechen. So erlebt der Journalist jedes Mal auf dem Friedhof etwas anderes, seine Wahrnehmung breitet sich, fernab von jedem Formalismus des Rituals, immer weiter aus.5 Wie der Knochen im Fluss am Ende von DWT auch einen allegorischen Gehalt hat, so sind sicher auch die langen Aufnahmen des Jeeps, der den Journalisten und seine Kollegen in die Gegend bringen soll und der von Beginn dieses Films an die Landschaft durchkreuzt, zunächst Allegorien auf die Bahn des Lebens: gleichzeitig aber Einschreibungen, Bahnungen des Kinos in der Landschaft. Das Auto durchquert das Bild, und diese Einstellungen sind parallelgeschnitten mit Aufnahmen aus dem Wagen, ohne dass wir seine Insassen sehen würden, deren Gespräch wir aber die ganze Zeit über hören können. Wir sind gleichzeitig inner- und außerhalb des Kinos, gleichzeitig mit den Figuren und ohne sie; das Kino ist für sich, Fremder, versteckt in der Karosserie des Jeeps, von der Wirklichkeit getrennt, macht sich aber bereits in seiner Einschrift in die Landschaft selbst zur Vision, in deren Schönheit die Differenz zwischen Zusammensein und Getrenntsein aufgehoben wird. Das Kino des Wartens (auf den Tod der Alten) ist ein Kino des Suspense, der Schwebe, des Wartens-zwischen-zwei, der lebendigen Fluktuation, der Umwege, die von Anfang an (aus den Gesprächen der Journalisten geht hervor, dass sie sich verfahren haben) den Kurs des Films bestimmen.

V

Die gleichen Umwege und die gleiche Artikulation aus Dialog, Innen des Autos und Außen der Landschaft, durch die das Auto fährt, finden wir in Kiarostamis Meisterwerk, DER GESCHMACK DER KIRSCHE, Geschichte eines Mannes, M. Badii, der mit dem Vorhaben spielt, sich umzubringen, und an einem Nachmittag mit dem Jeep durch die Hügel von Teheran fährt, um jemanden zu finden, der ihm das Grab zuschaufeln soll. Dieser Film, der auf den Tod zusteuert, macht einen Umweg und findet dabei die plastische Schönheit eines warmen, sonnigen Nachmittags, Schönheit der Welt, deren Evidenz aus den Dialogen mit den einfachen Menschen entsteht, die M. Badii auf seinem Weg trifft und die alle unterschiedlich auf sein Angebot reagieren. Sie sind „einfach“ dadurch, dass sie einfach da sind, dass sie sagen, was sie sagen müssen, tun, was sie tun müssen, im Gegensatz zu der Hauptfigur, die das Leid dessen trägt, der ein Bewusstsein von sich selbst hat, was im Gedanken an Selbstmord seinen genauesten Ausdruck findet. M. Badii bleibt dieser Schönheit durch die angesprochene Artikulation von Raum und Sprache (die Welt und ihre Schönheit, die ihn umgeben und die er, gleichsam in der Karoserie seines Jeeps von ihnen getrennt, durchmisst) fremd und gleichzeitig ihr Bestandteil. Die Schönheit ist die Mulde, in die sich M. Badiis Existenz hineinsenkt, Tröstung, flehender Ruf, die Welt und ihre Schönheiten nicht zu verlassen. Gleichzeitig präzisiert sie M. Badiis Einsamkeit und seine Todessehnsucht, da sich in ihr bereits die schönere Welt andeutet, die M. Badii ersehnt. DER GESCHMACK DER KIRSCHE ist schlichtweg ein Film über die Evidenz der Schönheit.
Am Ende des Films legt sich M. Badii doch in sein Grab (wie in DWT hat auch hier die Begegnung mit der Welt auf die Hauptfigur keine fundamentalen psychologischen oder moralischen Konsequenzen). Wie am Ende von FIVE ist auch hier die Schönheit der Welt und das Kino in tiefste Dunkelheit getaucht, die nur sporadisch vom Mond und von Blitzen erhellt wird. Auf einmal aber sehen wir Videoaufnahmen von den Dreharbeiten, in denen der Schauspieler gerade aus der Grube heraussteigt, in der er davor gestorben ist (oder auch nicht), um Kiarostami selbst eine Zigarette zu reichen: Auferstehung der Hauptfigur und des Kinos.
Nur in einem Kino, das in der tiefsten Nacht noch die kaum mehr sichtbaren Spuren von Leben auf M. Badiis Gesicht gefilmt hat, als ruhiger Beobachter, der mit Leichtigkeit aus sich selbst heraus und als von sich selbst gesondertes wieder in sich selbst eintritt, ist diese Art von Auferstehung, die fatalerweise auch eine Auferstehung des Bildes ist, das durch die Gefahr der Auslöschung und des Versinkens in der Nacht gehen muss, möglich. Genauer gesagt: nur in einem Kino, in dem das Zittern von Licht auf dem Gesicht eines sterbenden Mannes die direktesten und dringlichsten Zeichen von Lebendigkeit sind, in einem Kino, das über Umwege, nämlich als Kino, als sensibler Zuschauer der Wirklichkeit begegnet und sich deswegen in ihr selbst zur Erscheinung bringen muss. Nur in dieser lockeren Gemeinschaft mit der Wirklichkeit, in der es sich seine Intimität, die Neugier und die ruhige und interessierte Geste seines Blickes bewahrt, kann das Kino die flirrende Schönheit der Welt entdecken und aufheben, und sich selbst mit und in ihr.





Anmerkungen

1Zumindest im niedrigauflösenden Bereich der DV; bei der High Definition, vor allen Dingen in Hollywood entwickelt als Alternative zu dem Standardformat 35 mm, ist die Tiefenschärfe größer, zumindest einfacher bei der Postproduktion wiederzugewinnen, um die Differenz zwischen Film und Digitalem zu minimieren.



2 Man könnte sich vorstellen, sich die bewegten Gemälde aus FIVE an einem ultraflachen Bildschirm an die Wand zu hängen, sieht man einmal vom Problem des Rahmens ab, von dem im Folgenden die Rede sein wird.



3 Man kann sich fragen, ob ein ähnliches Projekt nicht David Lynchs (wie Kiarostami übrigens auch Maler) INLAND EMPIRE (ebenfalls auf DV gedreht) ist, dessen „Hauptfigur“ sich am Ende in einem Kinosaal wiederfindet. – INLAND EMPIRE ist die Dokumentation eines Imaginaire. Auf seiner platten Oberfläche können die unscharf voneinander abtrennbaren, morphogenen Visionen Lynchs besser und schwereloser zirkulieren denn je. Der Film ist gemacht aus einer Fluchtlinie, nicht aus einer Zirkulation (wie noch LOST HIGHWAY, MULHOLLAND DR). Wie FIVE ist Lynchs Film eine Art Bildermaschine, wie Kiarostami gibt er die Kontrolle dadurch auf, dass er sie durch die Leichtigkeit und Flexibilität der Produktion auf DV völlig auf sich vereint.



4 In FIVE werden sowohl Kino als auch Zuschauer in ihrer gegenseitigen Vermischung vom Verschwinden bedroht, aber das hat nichts zu tun mit den Wiederholungen und Widerspiegelungen in den Filmen von Ozu. Die einzelnen Elemente der Kino-Maschine können sich in FIVE neu anordnen, in völliger Freiheit neu zueinander finden, ohne in das Spiel der Identität, der Verdoppelung, der Kopie eintreten zu müssen, das Ozus formales System ihnen auferlegte.



5 So wird das Dekor in DWT nur sehr langsam aufgedeckt, in dem Maß, in dem der Journalist es erkundet. Viele Gesprächspartner des Journalisten bleiben im Verborgenen, in seinem hors champ, versteckt in Häusern, Erdlöchern oder einfach hinter dem Rand der jeweiligen Einstellung, und kommen erst verspätet ins Bild, wenn der Dialog schon zu Ende ist, bzw. sind nur noch als sich entfernende Umrisse wahrnehmbar. Der Journalist unterhält sich oft mit dem Dekor, mit der Welt, die die Figuren verbirgt, die ihm und uns völlig fremd sind und es auch bleiben. – Durch dieses langsame Auftauchen und Entfalten bleibt die Wirklichkeit immer ein großer, unteilbarer, aber nicht unverständlicher Block, sie bleibt filmbar, sie zerfällt nicht in ihre Einzelteile. Wie bei Roberto Rossellini sind Mensch und Dekor miteinander verbunden, man darf sie nicht trennen; wie bei dem italienischen Neorealisten hat Kiarostami ein globales Veständnis von Wirklichkeit, wie bei ihm spielt die Durchquerung des Dekors eine große Rolle, um dessen feste, wirkliche, materielle Konsistenz, fernab jeden allegorischen oder metaphyischen Wertes, evident zu machen. Die Landschaften Kiarostamis sind zwar sich ausdehnende, aber zusammenhängende Dekors, keine Multiplikation seperater Schauplätze. Gewissermaßen wird das Dekor durch den Weg zusammengehalten, der als Motiv in Kiarostamis Filmen immer wieder auftaucht.