Vorwurf



Ein Drittes

Anna Glazova



    Denn eines Nachts beunruhigte ihn etwas, das ihm wie ein unendlich fernes Weinen vorkam; es störte ihn anfangs kaum, er begriff es einfach nicht, aber von Zeit zu Zeit verringerte sich die seelische Entfernung um einen Sprung, und mit einemmal war die bedrohliche Unruhe dicht an seinen Ohren, und er fuhr so jäh aus dem Schlaf, daß er sich im Bett aufsetzte. Diotima lag zur Seite gewandt und gab kein Zeichen, aber er fühlte an irgendetwas, daß sie wache. Er rief sie leise beim Namen, wiederholte diese Frage und versuchte mit zärtlichen Fingern ihre weiße Schulter zu sich zu drehn. Aber wie er drehte, und ihr Gesicht im Dunkel über der Schulter aufging, sah es ihn böse an, drückte Trotz aus und hatte geweint. Leider hatte sein fester Schlaf Tuzzi inzwischen wieder halb überwältigt, zog ihn eigensinnig von hinten zurück zu den Polstern, und Diotimas Gesicht schwebte nur noch wie eine schmerzende helle Verzerrung vor ihm, die er in keiner Weise mehr begriff. "Was ist denn?" brummte er im leisen Baß des Einschlafens und erhielt eine klare, gereizte, unangenehme Antwort ins Ohr geprägt, die in seine Schlaftrunkenheit fiel und darin liegen blieb wie eine blinkende Münze im Wasser. "Du schläfst so unruhig, daß niemand neben dir schlafen kann!" hatte Diotima hart und deutlich gesagt; sein Ohr hatte es aufgenommen, aber damit war Tuzzi vom Wachen auch schon abgeschieden, ohne auf den Vorwurf weiter eingehen zu können.
    Er fühlte bloß, daß ihm schweres Unrecht geschehen sei. Ruhig zu schlafen, gehörte nach seiner Ansicht zu den Haupttugenden eines Diplomaten, denn es war eine Bedingung jedes Erfolgs. Man durfte ihn da nicht antasten, und er empfand sich durch Diotimas Bemerkung ernstlich in Frage gestellt. Er begriff, daß Veränderungen mit ihr vorgegangen seien. Es fiel ihm zwar nicht einmal im Schlaf ein, seine Frau greifbarer Untreue zu verdächtigen, dennoch stand es keinen Augenblick im Zweifel für ihn, daß das persönliche Unbehagen, das ihm zugefügt worden, mit Arnheim zusammenhängen müsse. Er schlief sozusagen zornig bis zum Morgen durch und wachte mit dem festen Entschluß auf, um diese störende Person Klarheit zu schaffen. 1

Zu einem Vorwurf gehört dreierlei: ein Subjekt, das den Vorwurf erhebt, ein Dativobjekt, gegen das er gerichtet ist, und ein Akkusativobjekt, das den Inhalt des Vorwurfs ausmacht. Die ersten zwei Elemente müssen nicht unbedingt zwei getrennte sein, aber auch wenn das Nominativsubjekt sich selbst Vorwürfe macht, so spaltet es sich im Vorwurf entzwei, und zwar erst durch ein Drittes. Nur kommt dieses Dritte, das zwischen die beiden Parteien im Vorwerfen tritt, nicht immer ganz klar zum Vorschein, so daß das vorwerfende Subjekt wie auch das Objekt, an das sich der Vorwurf richtet, nicht immer genau wissen, was oder wer dieses Dritte sei, während sie doch beide der sich vollziehenden Handlung des Vorwerfens ganz bewußt sind. Das Dritte aber, das Akkusativobjekt, das den Sinn des Vorwerfens bestimmen soll, bleibt in diesem Fall seltsamerweise von der Aktion unbetroffen. Sobald jedoch ein Drittes als ein Anerkanntes aktualisiert wird in der Beziehung der Zwei, die ihm in ihrem Miteinander einen bestimmten Platz einräumen, wird dadurch die Beziehung selbst zu einer dreiteiligen Beziehung, in der jede der Parteien in einer Relation zu den beiden anderen zusammen und zu jeder der Parteien im einzelnen steht. In solcher Beziehung kann aber nicht mehr von einem Vorwurf im strengen Sinn gesprochen werden. Also besteht der Vorwurf nur insofern, als das Dritte ein Unbestimmtes bleibt, das in der Beziehung der zwei Parteien aus- bzw. außen vor bleibt.
    Diotima wirft ihrem Gatten Tuzzi vor, er schlafe nicht ruhig und störe ihren eigenen Schlaf. Nun ist die tatsächliche Situation genau umgekehrt: sie selbst ist diejenige, die nicht ruhig schlafen kann und den besonders gesunden und tiefen Schlaf ihres Gatten – auf den er übrigens recht stolz ist – durch ihre Unruhe stört. Was sie ihm vorwirft, ist somit nicht der eigentliche Inhalt des Vorwurfs, sondern ein Ersatz des Inhalts, der sie veranlaßt, den Vorwurf zu erheben. Ihre Unruhe entsteht aus der Sorge um Arnheim, in den sie sich verliebt hat, obwohl sie das noch nicht deutlich wahrnimmt, und deshalb aus der Sorge um die Zukunft ihrer Ehe mit Tuzzi. Die Störung des Schlafs entreißt sie dem Tempo ihres gemeinsamen Lebens, an das sie sich einmal anpaßte und das jetzt, in und durch ihren Vorwurf, aus der Balance gerät. Der Rhythmus des Schlafs im Ehebett – der breite Rhythmus ehelicher Berührung[, der sich] rein psychologisch in ihr zu einer Gewohnheit entwickelt [hatte], die ihre Bahnung für sich besaß und sich ohne Verbindung mit den höheren Teilen ihres Wesens wie der Hunger eines Knechtes meldete2 – ist auf einmal gestört, so daß die beiden Gatten durch eine unbehagliche Lücke getrennt werden und das Tempo ihres Zusammenseins, Zusammenschlafens und Zusammenatmens in zwei vereinzelte, asynchrone Tempi auseinandertreibt.
    Zum Vorwurf gehört eine Störung im Einklang der Tempi des Zusammenseins, die mit einemmal die beiden Parteien, die in den Vorwurf einbezogen sind, auseinander und in je einzelne Zukünfte reißt. Der Moment, in dem der Vorwurf gemacht wird, verschiebt ein Tempo gegen das andere, wenn auch nur um ein Unbedeutendes, so daß die zwei Tempi aus einem Miteinander in ein Durcheinander geraten. Das Dritte aber, das Motiv des Vorwurfs angegeben wird, kann relativ belanglos sein. Dem Subjekt, das den Vorwurf erhebt, geht es allein darum, eine Störung im Miteinander hervorzurufen, um sich noch in der Gemeinsamkeit als einzeln zu behaupten. Nur solange das Miteinander noch besteht, kann der Vorwurf als Bedrohung mit der möglichen Trennung dargestellt werden. Derjenige, der vorwirft, droht dem Anderen mit der Vereinzelung, indem er sich als unabhängig vom Anderen erklärt, aber doch noch die Gemeinsamkeit betont, die als die notwendige Kommunikationsebene für den Vorwurf bestehen bleiben muß. Der Vorwurf erzeugt eine Spaltung, die nur solange eine Spaltung bleibt, wie sie die Gemeinsamkeit erhält.
   
    Auch die von Diotima geistig – schöngeistig – geleitete "Parallelaktion" hat grundsätzlich die selbe Struktur wie der Vorwurf, den sie ihrem Gatten macht. Der Sinn dieses, wie der Vorwurf, in die Zukunft gerichteten Unternehmens ist zu zeigen, daß die Doppelmonarchie alles mit Deutschland teile, aber in dieser Gemeinsamkeit doch anders und unabhängig sei. Dabei fehlt dem Unternehmen jeder eigene Inhalt, wie schon der Ausdruck "Parallelaktion" andeutet: der Inhalt ist beliebig ersetzbar durch verschiedenste Variationen der geläufigsten Parolen, von "Los von Rom bis Vorwärts zur Gemüsekultur". 3 In der Suche nach einem Inhalt bemüht sich Diotima, eine zusammenhängende "österreichische Idee" zu erfinden, erkennt aber, daß es unmöglich ist, eine solche zu formulieren. Und eigentlich geht es ihr um etwas anderes als einen kohärenten Inhalt. Doktor Arnheim, dem Preußen, erteilt sie die Aufgabe, die österreichische Parallelaktion zu lenken. Ihre Alliance mit Arnheim soll die Synthese von Österreich mit Deutschland in nuce repräsentieren; dabei aber reicht der vage Ausdruck "die österreichische Idee" nicht aus, um die beiden Parteien aneinander zu binden. Deshalb kommt Diotima auf den Einfall, nicht mehr von der bloß österreichischen, sondern – mit einer expansiven Geste – von der weltösterreichischen Idee zu sprechen, die ganz Europa miteinbezöge. Und "[als] Diotima […] das Wort Welt-Österreich ausgesprochen hatte, ein Wort, das so heiß und fast auch so menschlich unverständlich war wie eine Flamme, da hat ihn [d.h. Arnheim] etwas ergriffen".4 Die Parallelaktion, wie sie Diotima mit ihrem geistigen Auge sieht, ist ein sanfter Vorwurf gegenüber Deutschland, das die Tatsache nicht anerkennt, daß Österreich mit ihm vollkommen einig und doch anders, weil überlegen sei: denn im weltösterreichischen Geist muß ja auch der deutsche enthalten sein. Derjenige, der den Vorwurf erhebt, zielt auf die Selbstständigkeit, bedient sich aber des Mittels der Expansion, weil er den Anspruch auf Unabhängigkeit neben dem Anpruch auf die Gemeinsamkeit bestehen läßt. Der Vorwurf ist, seinem Wesen nach, annexionistisch.




Anmerkungen


1 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Rowohlt Verlag, 2005: 202 (Hervorhebung durch mich).
2Ebenda: 105.
3Ebenda: 271.
4Ebenda: 187.


zurück zum Inhalt oder weiter (Forwurv)