Vom Gruß der Engel

von Gisèle Kremer


Im sechsten Monat aber wurde der Engel Gabriel von Gott in eine Stadt Galiläas namens Nazareth gesandt zu einer Jungfrau, die verlobt war mit einem Mann namens Joseph aus dem Hause Davids; und der Name der Jungfrau war Maria. Und er kam zu ihr herein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir. Sie aber erschrak über das Wort und sann darüber nach, was das für ein Gruß sei. Da sprach der Engel zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria!
(Luk.1, 26-30a)
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Dieser Gruß wirft in der Tat Fragen auf, und man kann sich leicht vorstellen, was Maria, neben der Frage, wer oder was da eigentlich vor ihr steht, sonst noch durch den Kopf schwirrt: „Welcher Herr ist mit mir und wieso sollte er es sein? Warum grüßt mich dieses Wesen so, als wüsste es, wer ich bin? Ich bin doch gar nicht das, was es mir unterstellt - eine Begnadete? ...“ Dieser Gruß, der ihr auf seltsame Weise unpassend erscheint, irritiert sie so, dass sie nicht über den Engel als solchen sondern tatsächlich über „das Wort“ erschrickt, und lässt das darauf folgende „Fürchte dich nicht, Maria!“ des Engels in einem anderen Licht erscheinen.

Wieso kann ein Gruß eine derartige Furcht einflößen? In erster Linie ist dieser Gruß natürlich überfrachtet, denn er dient hier nicht dazu, eine Brücke zwischen zwei Sprechenden zu bauen, die sich noch nie gesehen haben, sondern er übermittelt bereits erste Informationen, die normalerweise eigentlich erst im Laufe eines Gespräches mitgeteilt werden - wobei das Wissen, das der Engel mit Maria teilen möchte wahrscheinlich zu jeder erdenklichen Zeit seltsam anmuten würde.

Der Gruß, der sonst zwei Fremden ein langsames Aufeinanderzugehen ermöglicht, wird hier also seiner ursprünglichen Funktion beraubt, doch überrumpelt wird Maria nicht nur durch das so abrupt vorgetragene Wissen des Engels: er betitelt sie mit einer Bezeichnung, die für sie einer Erhebung in den Adelsstand gleichkommen muss:
„Du Begnadete!“ Sie, ein einfaches Mädchen wird durch den Gruß zu etwas Besonderem, und falls sie sich bereits zu dem Zeitpunkt Sorgen über ihren vorehelichen körperlichen Zustand gemacht haben sollte, der damals immerhin zur Steinigung führte, muss ihr diese Anrede doppelt unpassend vorkommen, denn der Gruß dient auch dazu, festgelegte Konventionen zu bestätigen, sich im sozialen Gefüge zurechtzufinden und dieses gegebenenfalls jeden Tag aufs Neue anzuerkennen.

Trotzdem verläuft die Begegnung zwischen Maria, die im Grunde ja später auch aus ihrem sozialen Gefüge herausgerissen werden wird, und dem Engel einigermaßen glimpflich, und man könnte sich durchaus fragen, wieso. Die Antwort ist einfach, denn Gabriel hat, da es sich immerhin um die Geburt des Herrn handelt, vor seinem Erscheinen bei Maria eine Art Generalprobe abgehalten, die nicht sonderlich glückte, die aber genau deswegen um einiges aufschlussreicher ist:

Es erschien ihm aber ein Engel des Herrn, der zur Rechten des Räucheraltars stand. Und Zacharias erschrak, als er ihn sah, und Furcht überfiel ihn. Aber der Engel sprach zu ihm:
Fürchte dich nicht, Zacharias! denn dein Gebet ist erhört worden, und dein Weib Elisabeth wird
dir einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Johannes geben. Und du wirst voll Freude und Jubel sein (...). Und Zacharias sagte zu dem Engel: Woran soll ich das erkennen? (...) Da antwortete der Engel und sprach zu ihm: Ich bin Gabriel, der vor Gott steht, und bin gesandt, um mit dir zu reden und dir diese frohe Botschaft zu bringen. (Luk.1, 11-14a; 18a; 19)


Zacharias stellt eine vernichtende Frage: ,,Woran soll ich das erkennen?“, die bei Sartre in abgewandelter Form wiederkehrt: ,,Wenn ein Engel zu mir kommt, was beweist mir, dass es ein Engel ist?“2 Die Antwort ist einfach: ,,Wenn eine Stimme sich an mich richtet, so bin ich es immer, der entscheidet, dass diese Stimme die Stimme des Engels ist.“3 Zacharias steht somit vor der schweren Entscheidung, den Gruß des Engels - oder das, was Gabriel für einen Gruß hält - als solchen anzunehmen und damit eine Verbindlichkeit herzustellen, die ihn für das noch Kommende in die Pflicht nehmen wird.

Bereits in der Beantwortung eines Grußes kann sich also Angst einstellen, die Angst, eine freie Handlung zu begehen, deren Konsequenzen man nicht kennt, und die man später bereuen könnte, und Gabriel, dem das sehr wohl klar zu sein scheint, versucht, gleich zu Beginn, diese Angst mit einem: ,,Fürchte dich nicht, Zacharias!“ einzudämmen. Das, was auf den ersten Blick wie eine etwas paranoide Einstellung dem Gesprächspartner gegenüber wirken könnte, hat dabei durchaus seine Daseinsberechtigung, denn nicht immer kann man sicher sein, dass
derjenige, den man grüßt, einem nicht zwei Stunden später den Kopf einschlagen wird, und auch die Ausrottung ganzer Völker hat vermutlich manchmal mit einem harmlos vorgetragenen Gruß begonnen.

Aber auch Gabriel hat mit dem Gruß zu kämpfen. Betrachtet man das, was er sagt, genauer, so stellt man nämlich fest, dass er das, was man normalerweise unter einem Gruß versteht, schlichtweg vergessen hat und gleich mit einer längeren Prophezeiung beginnt. Es ist insofern kein Wunder, dass Zacharias an den Absichten des Engels zweifelt, und erst nachdem er diese Zweifel geäu8ert hat, kommt es Gabriel überhaupt in den Sinn, sich vorzustellen.

Gabriel demonstriert hier mit seinem Versuch eines Grußes auf eindrucksvolle Weise, was passieren kann, wenn man seine Handlungen so auswählen muss, dass sie für alle gelten sollen4: scheitert man aufgrund vorherrschender Konventionen bereits am Gruß, so bleibt man von jeder weiteren Interaktion mit der Umwelt mehr oder weniger ausgeschlossen.
Die Freiheit, die man theoretisch hatte, kann in der Praxis also sehr schnell wieder zunichte gemacht werden, da sich bereits beim Gruß herausstellt, dass es eine mir gegenübergestellte Freiheit oder auch durch Konventionen gebundene Unfreiheit gibt, die nur für oder gegen mich will oder kann.5

Gabriels Glaubwürdigkeit ist also bereits zu Beginn des Gespräches dahin, und so versucht er sich aus der missglückten Situation zu retten, indem er die Wirkungslosigkeit seiner eigenen Worte auf Zacharias projiziert, den er bis zur Geburt seines Kindes zur Sprachlosigkeit verdonnert.

Interessant ist dabei allerdings noch, wieso Gabriel solche Probleme mit dem menschlichen Gruß hat: laut Thomas von Aquin sind Engel rein geistige Lebensformen, die ihr Wissen nicht erst durch die Sinne erwerben müssen und deswegen auch keinen Körper benötigen.6 Beschreibt er die Sprache der Engel, so beschreibt er damit eine idealisierte Form der Sprache, eine Sprache, wie sie sein könnte, wenn sie nicht, wie beim Menschen, durch den Körper in ein Korsett gezwängt wird.

Bedient der Engel sich eines Körpers, so tut er dies also nur, um mit den Menschen in Kontakt zu treten. 7 Und genau daran scheitert Gabriel, denn: „bei uns wird das innere geistige Wort gleichsam durch ein doppeltes Hindernis verschlossen gehalten. Erstens durch den Willen selbst, der den Gedanken des Verstandes im Inneren zurückhalten oder nach außen wenden kann“ - was übrigens auch zu den oben genannten Unsicherheiten in der Beantwortung eines Grußes führen kann, schließlich kann man sich seiner eigentlichen Qualität nie ganz gewiss sein, denn sobald Sprache den Körper verlässt, kann sie auch gleich wieder dazu dienen, etwas zu verschleiern: ,,zweitens wird der Geist eines Menschen geschlossen gehalten vor einem andern Menschen durch die Grobstofflichkeit des Körpers.“ 8

Gabriel aber ist es gewohnt, ohne die Barrieren des Körpers zu kommunizieren, denn:,,dadurch aber, dass der Gedanke im Geiste des Engels durch dessen Willen zur Offenbarung an einen anderen bestimmt wird, wird das geistige Wort des einen Engels dem andern bekannt, und so spricht ein Engel zum andern.“ Und: ,,Sobald darum der eine [Engel] seinen Gedanken offenbaren will, sofort gelangt der andere zu dessen Kenntnis.“ (107,1).

Eine Sprache, die ohne körperliche Lautäußerung vor sich geht, ein inneres Sprechen ist nicht an die zeitliche Entfaltung durch die Stimme gebunden, sie verläuft in Intuitionen und Geistesblitzen, und deswegen ist es, was die guten Engel angeht, die sich immerfort gegenseitig im WORTE schauen, (...)nicht nötig, ein Zeichen zum Aufmerken zu geben.“ (107,1)

„Es gibt einige vollkommen verstandhafte Selbstandwesen in der verstandhaften Natur, die nicht darauf angewiesen sind, das Wissen von den sinnenfälligen Dingen zu erwerben. Also sind nicht alle verstandhaften Selbstandwesen mit Körpern geeint, sondern einige sind von Körpern geschieden. Und diese nennen wir Engel.“ (Auszug aus der 51. Frage, Artikel 1: Haben die Engel Körper, welche ihnen von Natur aus geeint sind?)

Dieses sinnenhafte Zeichen, das zum Aufmerken dienen soll, ist aber beim Menschen auch der Gruß, denn er verhilft zu einer Verortung in Zeit und Raum, er bildet den Auftakt zu dem, was sprachlich folgen soll und muss, denn Sprache kann, wenn sie gesprochen wird, nur linear verlaufen und ist, wenn sie ohne technische Hilfsmittel erfolgt, notgedrungen, aufgrund der Hörweite, ortsgebunden.

Gabriel hingegen verzettelt sich, indem er erst dieses sinnenhafte Zeichen bei Zacharias mehr oder weniger vergisst um danach bei Maria mehrere Gedanken, die er vermutlich alle gleichzeitig gedacht hat, gleich in den Gruß zu packen, der dadurch natürlich seiner zeitlichen Funktion beraubt wird. Warum Gabriel diese Fehler unterlaufen, liegt wieder an der Sprache der Engel: ,,Das Sprechen des Engels besteht in einer geistigen Tätigkeit. Die geistige Tätigkeit des Engels aber ist gänzlich unabhängig von Raum und Zeit.“ 9 Was bei Zacharias im Wachzustand nicht funktionieren kann, ist allerdings in Josefs Traum kein Problem: auch hier missachtet der Engel, der die Prophezeiung überbringt, den Gruß, selbst auf das ,,Fürchte dich nicht!“ kann er verzichten, denn Josef ist im Schlaf jenseits von Zeit und Raum ansprechbar:

Doch als er dies im Sinn hatte [Maria wegen ihrer Schwangerschaft zu verlassen], siehe, da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum, der sprach: Joseph, Sohn Davids, scheue dich nicht, Maria, dein Weib, zu dir zu nehmen; denn was in ihr gezeugt ist, das ist vom heiligen Geiste.
(Mt.1,20)


So wenig ist Joseph, im Gegensatz zu Zacharias und Maria, irritiert, dass er, nachdem er aufwacht, sogleich tut, was der Engel ihm nahegelegt hat. Auch nach der Geburt seines Sohnes wird er, wieder im Traum, von einem Engel
heimgesucht, und wieder fehlt jegliche Art von Gruß oder Anrede:

Als sie aber hinweggezogen waren, siehe, da erscheint ein Engel des Herrn dem Joseph im Traum und sagt: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und fliehe nach Ägypten und bleibe dort, bis ich es dir sage; denn Herodes will das Kindlein aufsuchen, um es umzubringen.
(Mt.2,13)


Ein großer Kontrast zu diesen beiden Aufforderungen, die eindeutig an eine Person gerichtet werden, die im Traum nicht mehr auf ihren Körper zurückgreifen muss, um zu kommunizieren, bildet folgende Episode:

Und es begab sich, als Elisabeth [die Frau des Zacharias] den Gruß der Maria hörte, da hüpfte das Kind in ihrem Leibe, und Elisabeth wurde mit dem heiligen Geist erfüllt und brach mit lauter Stimme in die Worte aus: Gesegnet bist du unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes. Und woher wird mir dies zuteil, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? Denn siehe, als der Klang deines Grußes in mein Ohr drang, hüpfte das Kind mit Frohlocken in meinem Leibe.
(Lk.1, 41-44)


Hier findet die Kommunikation auf einer rein körperlichen Ebene statt, der Gruß wird als Laut wahrgenommen, als sinnenhaftes Zeichen, das zum Aufmerken
veranlasst, und dieses Aufmerken löst im Kind eine körperliche Reaktion aus, die allerdings auch willkürlich hätte erfolgen können.

In diesem Fall nimmt der Gruß eine fast tierhafte Wendung an, und weist damit zurück auf die Zeit, in der der Gruß noch als tierischer Laut verstanden werden konnte, der dazu diente, einen weiteren Angehörigen der gleichen Art kenntlich zu machen, ihn zu orten, ohne allerdings auf den Gruß einen zeitlichen Ablauf von Sprache folgen zu lassen, dieser Gruß weist zurück an den Anfang, als zwar bereits Raum aber vermutlich noch nicht Zeit für den Menschen zu einem wichtigen Parameter wurde, und er weist auch zurück auf seine eigenen Anfänge, die offensichtlich noch weit vor der Entwicklung der menschlichen Sprache liegen.


1 'Alle Bibelzitate wurden dem Zürcher Bibeltext entnommen (Verlag der Zwingli-Bibel, Zürich 1955)

2J.-P. Sartre: Ist der Existentialismus ein Humanismus?, Ullstein Taschenbuch-Verlag, Frankfurt/Main 1960; S.14

3Sartre, S.14

4Sartre, S.12: „Tatsächlich gibt es nicht eine unserer Handlungen, die, indem sie den Menschen schafft, der wir sein wollen, nicht gleichzeitig ein Bild des Menschen schafft, so wie wir meinen, dass er sein soll.“

5Sartre, S. 26: „(...) eine mir gegenübergestellte Freiheit, die nur für oder gegen mich will.“

6Thomas von Aquin: Summa theologica, übersetzt von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, hrsg. vom Katholischen Akademikerverband, Verlag Anton Pustet, Salzburg/Leipzig 1936:

„Es gibt einige vollkommen verstandhafte Selbstandwesen in der verstandhaften Natur, die nicht darauf angewiesen sind, das Wissen von den sinnenfälligen Dingen zu erwerben. Also sind nicht alle verstandhaften Selbstandwesen mit Körpern geeint, sondern einige sind von Körpern geschieden. Und diese nennen wir Engel.“ (Auszug aus der 51. Frage, Artikel 1: Haben die Engel Körper, welche ihnen von Natur aus geeint sind?)

7Thomas von Aquin: „Die Engel bedürfen eines angenommenen Körpers nicht um ihrer selbst willen, sondern um unsertwillen, um im vertraulichen Verkehr mit den Menschen die geistige Gemeinschaft zu bekunden, deren Mitgenuss die Menschen erwarten für das zukünftige Leben.“ (Auszug aus der 51. Frage, Artikel 2: Nehmen die Engel Körper an?)

8siehe Thomas von Aquin: 107. Frage, Artikel 1: Spricht ein Engel mit dem andern?

9s. Thomas von Aquin: 107. Frage, Artikel 4: Hat räumliche Entfernung beim Sprechen der Engel etwas zu besagen?