„Aber
die deutsche Küche überhaupt – was hat sie
nicht Alles auf dem Gewissen!“
Friedrich Nietzsche, Ecce
Homo
„In Paris wird der Ruhm kultiviert, und ich lerne hier den
schönen Ertrag kennen, den er heute abwirft. [...] Nur hier
gibt es unvorstellbar große Bibliotheken, die dem Geist
durchgehend Unterweisungen und Nahrung bereithalten“
– Par(ad)i(e)s, Idyll: Der Ruhm, so scheint es Lucien
Séchard de Rubempré, entwachse gleichsam dem
Boden der Stadt, in der sich der Dichter nun auf den
natürlichen Weg besonnen hat, den Weg natürlichen
Wachstums. Seine adelige Maitresse, die ihn aus der Provinz hierher
geführt hatte, hat ihn verlassen, er muss sich selbst
nähren in den stets geöffneten Bibliotheken, die dem
Geist, so schreibt er es seiner Schwester Eve, die ihn aus der Heimat
unterstützt, eine pâture
sind: Nahrung, aber fast auch schon Weidegrund. Das
Genie – ingenium,
von Natur eingeborenes –, die schwärmerisch verehrte
Gabe des Künstlers, die sich nie ausweisen muss, verspricht
einen reichen Ertrag, befolgt man nur ihre Reifezyklen und
Ernteperioden – „im Einklang mit den
Wechselfällen der Landwirtschaft und den Kaprizen der
französischen Jahreszeiten.“
Es scheint, als zeige sich schon in
dieser Gegenüberstellung
die Katastrophe, mit der Luciens erste Eroberung der Stadt Paris in
Balzacs Illusions
Perdues enden sollte. Bei Flicoteaux, in diesem Restaurant
mit seinem karg gefliesten braunen Schaufenster, das alle
Äußerlichkeiten, „für die Augen
von fast allen heutigen Restaurantbesitzern zum Nachteil das Bauches
eingerichtet,“ so entschieden von sich weist, finden sich
viele der Fragen, die später die wesentlich ausschweifenderen
Seiten unseres Romans und der Comédie
Humaine im Ganzen bevölkern werden. Wenn man
genau aufpasst, kann man sie sehen, wie sie gedrängt
beisammensitzen an den Tischen, deren monastisches Aussehen den
Betrachter zu der Vermutung verleitet, sie seien „irgendeinem
klösterlichen Speisesaal entsprungen“.
Flicoteaux, an der
nordöstlichen Ecke der damals noch
wesentlich kleineren Place de la Sorbonne gelegen, einer
Straßenecke, die es seit dem Durchbruch des Boulevard St.
Michel nicht mehr gibt (seine tatsächliche Existenz scheint im
übrigen verbürgt, auch wenn dies hier nichts zur
Sache tut), war nicht einfach ein Restaurant, sondern, in der Person
seines Besitzers, „Freund der Jugend“,
„père-nourricier“ – Ziehvater
und vor allem Ernährer ganzer Generationen junger Pariser
Intellektueller: Ein Essen mit 3 Gängen, einem Bier oder einem
Schoppen Wein und vor allem „pain à discretion,
c’est-à-dire jusqu’à
l’indiscretion,“ war hier für 18 Sous,
also 90 centimes, zu erwerben, noch immer knapp ein halber Tageslohn
eines Arbeiters, aber weniger als die 50 Francs, die Lucien sein
Ausflug zu Véry, einem der Tempel des guten Essens, gekostet
hatte.
Aber mit dem Hinschauen ist es bei
Flicoteaux so eine Sache. Denn
zuerst geht es um die Ernährung: Die prachtvolleren
Restaurants tragen in ihren Schaufenstern bergeweise
Fleischstücke, Fische und Gemüse zur Schau. Nicht
mehr „primeurs“ sind diese, sondern
„postmeurs“,
wie der Erzähler betont.
Flicoteaux mag mit derartigen Auslagen, die doch schon tot sind, nichts
zu schaffen haben. Er will einzig Lebens-Mittel bieten, im
eigentlichsten Sinn des Wortes – und das können nur
Dinge sein, die dem Leben dienen, dem Körper
zugeführt, genossen werden. Was den Tod erreicht oder, wie es
das Wortspiel suggeriert, schon überschritten hat, das Leben
transzendiert, ist hier fehl am Platze. Auch die Menschen, die hier
essen, scheinen zunächst kaum attraktiv, „haben eine
Schwere, die sich selten aufheitert“; es wird kaum
gesprochen, eine Freundschaft allenfalls
„entworfen“, um erst später, „in
einem naheliegenden Café über den Flammen eines
alkoholischen Punch oder der Wärme einer halben Tasse
Kaffee“ besiegelt zu werden.
Lucien, der schöne, ehrgeizige
Dichter aus der Provinz hatte
bereits nach seinen ersten Abendessen in unserem Restaurant einige sehr
wegweisende Schlüsse gezogen: „Schon am Tag seines
ersten Besuchs bei Flicoteaux hatte er in der Nähe des Tresens
einen Tisch ausgemacht, wo ihm die Physiognomien der Speisenden, ebenso
wie ihre flüchtig aufgeschnappten Gesprächsfetzen,
literarische Gefährten anzeigten.“ Und nicht nur auf
seinen geistigen Vorteil ist er bedacht, auch auf den materiellen (eine
der verlorenen Illusionen besteht in der Erkenntnis, dass letzterer den
ersteren bedingt und nicht umgekehrt): Er sucht sich auch deshalb einen
Platz in der Nähe der Theke, weil er hofft, dort das Personal
besser kennenzulernen, „und in Tagen finanzieller
Schwierigkeiten würde man ihm so ganz ohne Zweifel den
benötigten Kredit einräumen.“
Diese beiden Strategien Luciens haben
mehr miteinander zu tun als man
annehmen könnte. Denn das Essen und die Art zu essen,
materielle Grundlage des Lebens, die bezahlt werden will, macht das
aus, was wir sind. Ganz biologisch, denn wir verwandeln uns all jene
Stoffe an, die wir zu uns nehmen, aber auch
„moralisch“, wie Brillat-Savarin, der
große Gastrophilosoph des frühen 19. Jahrhunderts,
formuliert, für den „die gourmandise ein Akt der
Urteilskraft ist“, aus dem er berechtigterweise einen seiner
grundlegenden Aphorismen ableiten kann: „Sag mir, was Du
isst, und ich sage Dir, was Du bist.“ Wohlgemerkt,
„was
du bist“ und nicht „wer du
bist.“ Das Essen ist also die zur Arbeit nötige
Nahrungsaufnahme, aber als konstitutives Element der Arbeit selbst auch
Teil von ihr. Flicoteaux weiß das, sein „Restaurant
ist eine Werkstatt mit ihren Werkzeugen, und nicht der Festsaal mit
seiner Eleganz und seinen Vergnügungen.“ Aber so
klar sind die Grenzen hier gar nicht. Das Essen in unserem Restaurant
ist der Arbeit aufs engste verwandt: „Man isst hier, nicht
mehr und nicht weniger.“ Das aber steht keinesfalls
für Uniformität: „man isst hier wie man
arbeitet, mit düsterer oder heitere Miene, dem Charakter und
den Umständen gemäß.“ Die Arbeit,
das Essen, wird hier zu einem Erlebnis, wie es in der Kapitale sonst
kaum zu finden ist, „nur wenige Restaurants bieten so ein
schönes Schauspiel.“
Noch das einfachste Essen bereitet uns
ein Vergnügen
– und sei es bloß die Befriedigung eines
Bedürfnisses. Das erklärt sich schon aus der
lebenserhaltenden Notwendigkeit der Ernährung – und
bietet die Grundlage für alle Verfeinerungen, die
schließlich in den Raffinessen des eleganten Lebens
münden, dessen Ziel es ist, alle menschlichen Eigenschaften
auf ein Maximum zu kultivieren, „die Herausbildung von
Geschmack und Anmut in allem, was uns eigen ist,“ bestimmt
Balzac für das Elegante Leben. Dies kann natürlich
nicht mit Arbeit im herkömmlichen Sinne einhergehen. Der
Künstler, der Geistesarbeiter dagegen, der einen guten Teil
der Kundschaft Flicoteauxs ausmacht, ist von der strengen Scheidung in
Arbeitsames und Elegantes Leben ausgenommen, die Balzac in seinem
Traité de la
vie élégante anlegt. Das
künstlerische Genie, dem „sein
Müßiggang Arbeit und seine Arbeit Erholung
ist,“ wie es im Traité
weiter heißt,
genießt noch die Arbeit an seinem eigenen Körper,
weiß die Revitalisierung zu erschmecken, die ihm die
frischen, saisonalen Produkte bescheren, die Flicoteaux seinen
Gästen serviert. So wird das Essen dort zu einer Art Allegorie
der geistigen Arbeit, und das Spektakel, das sich dem Beobachter
bietet, ist gleichsam Teil des großen Prozesses der
Kunstwerdung, die letztlich unabtrennbar mit dem fertigen Werk
zusammenhängt. Die Kunst der zuverlässigen
Zubereitung bei Flicoteaux muss dabei den augenzwinkernden Vergleich
mit der großen Malerei nicht scheuen, die Kartoffel
„bietet sich dort seit dreißig Jahren im gleichen
Gelbton dar, den Tizian so schätzte,“ und, so
fügt der genaue Beobachter des weiblichen Geschlechts hinzu,
„genießt ein Vorrecht, das ihr die Frauen neiden:
so wie Ihr sie 1814 gesehen habt, so werdet Ihr sie 1840 wieder
treffen.“ Natürlich stehen dem Künstler
auch die Sphären der hohen Gastronomie offen; geht er dort dem
Müßiggang nach, so arbeitet er an den Einsichten,
die ihm den nötigen Einblick für das Verfassen der
großen Gesellschaftsromane seiner Zeit geben.
Freilich ist die Karriere, die Lucien
Sechard de Rubempré
bei Flicoteaux beginnt, keinesfalls die eines Musterschülers
dieses Etablissements. Die Verlorenen Illusionen und ihre skrupellose
Überkompensation durch Ehrgeiz und Hochmut führen zu
einem nahezu tragischen Ende. Bei Flicoteaux dagegen hätte man
mehr lernen können, als die Physiognomien der
Bohème, ihre Lebens- und Arbeitsweisen
einzuschätzen: „Der Student, der im Quartier Latin
seine Zeit fristet, erlangt hier die genaue Kenntnis der Zeiten (des
Temps).“ Dabei geht es natürlich zuerst um die
Jahres-Zeiten: „Wenn der Merlan und die Makrele zu den Ufern
des Ozeans schwärmen, dann finden sie sich bald bei Flicoteaux
ein.“ Ebenso erfährt der aufmerksame Student der
Tageskarte, „wann Bohnen und Erbsen sprießen, wann
die Markthalle Kohl in Hülle und Fülle feilbietet,
welcher Salat dort im Überfluss vorhanden ist, oder ob die
Rote Beete eine Missernte hatte.“ Flicoteaux ist damit auf
seine Weise eine genuin urbane Einrichtung: Das Restaurant
fügt sich der kleinteiligen und bescheidenen Struktur des
Quartier Latin, zeigt von außen nur seine schlichte Fassade
und ist doch ein zuverlässigeres Fenster auf die Welt als die
großen Restaurants, eignet sich die Welt dort
draußen für die Stadt an. Die längst
erstorbenen oder dem Tod durch Verwelkung bestimmten Auslagen anderer
Restaurants dagegen sind bestenfalls geeignet, die
„payses“, Stadtbesucherinnen vom Land, die von
ihren Korporals-Kavalieren ausgeführt werden, in naives
Erstaunen zu versetzen.
Aber le Temps, mit Majuskel
geschrieben, sind auch die Zeiten in einem
weiteren Verstand. Denn Flicoteauxs Betrieb zeugt von den grundlegenden
Mechanismen der Ökonomie, die das postrevolutionäre
und frühindustrielle Frankreich bestimmt und die von den
Gästen durchaus zur Kenntnis genommen wird, wie ein
Gerücht bestätigt, das man sich dort in
regelmäßigen Abständen erzählt,
dass nämlich „das Auftauchen von Beefsteaks auf eine
erhöhte Pferdesterblichkeit“
zurückzuführen sei. (Balzac betont dabei an anderer
Stelle, dies zur Ehrenrettung, dass Flicoteaux noch nie jemandem
Magenschmerzen bereitet habe.) Angebot und Nachfrage aber, das ersehen
wir, machen das Angebot von Flicoteaux aus, ja sind die Grundlage der
modernen Restauration überhaupt. Die ist ein Kind eben jener
nachrevolutionären Jahrhundertwende, und, so betont
Brillat-Savarin, hat die Betriebswirtschaft als wichtiges Fundament
– die damit auch Fundament der dichterischen Arbeit ist.
Flicoteaux ist also eine Einrichtung, die nicht anders funktioniert als
die Buchhändler, denen der junge Autor Lucien wenig
später seinen ersten Roman anbieten wird – und die
ihn mit ihren scheinbar so niedrigen Angeboten in seinen Illusionen
erschüttern, und er konstatiert, dass „diese
Buchhändler die Bücher betrachteten wie ein
Strickwarenhändler seine Wollmützen, eine Ware, die
teuer zu verkaufen und günstig zu beschaffen sein
muss.“ Den Früchten des Genies in Balzacs Paris
ergeht es wie den Früchten der Baumwollsträucher, der
Felder, Bäume, Ställe, Meere und Flüsse
– sie müssen einen Abnehmer finden, der sie kauft.
*Alle Übertragungen aus dem
Französischen stammen vom Autor dieses Essays. Die
einschlägigen Passagen über Flicoteaux finden sich
auf den Seiten 208-213 der Ausgabe von Gaëtan Picon bei
Gallimard Folio, Paris 1972.