Flicoteaux

von Michael Hack

„Aber die deutsche Küche überhaupt – was hat sie nicht Alles auf dem Gewissen!“
Friedrich Nietzsche, Ecce Homo


„In Paris wird der Ruhm kultiviert, und ich lerne hier den schönen Ertrag kennen, den er heute abwirft. [...] Nur hier gibt es unvorstellbar große Bibliotheken, die dem Geist durchgehend Unterweisungen und Nahrung bereithalten“ – Par(ad)i(e)s, Idyll: Der Ruhm, so scheint es Lucien Séchard de Rubempré, entwachse gleichsam dem Boden der Stadt, in der sich der Dichter nun auf den natürlichen Weg besonnen hat, den Weg natürlichen Wachstums. Seine adelige Maitresse, die ihn aus der Provinz hierher geführt hatte, hat ihn verlassen, er muss sich selbst nähren in den stets geöffneten Bibliotheken, die dem Geist, so schreibt er es seiner Schwester Eve, die ihn aus der Heimat unterstützt, eine pâture sind: Nahrung, aber fast auch schon Weidegrund. Das Genie – ingenium, von Natur eingeborenes –, die schwärmerisch verehrte Gabe des Künstlers, die sich nie ausweisen muss, verspricht einen reichen Ertrag, befolgt man nur ihre Reifezyklen und Ernteperioden – „im Einklang mit den Wechselfällen der Landwirtschaft und den Kaprizen der französischen Jahreszeiten.“
    Es scheint, als zeige sich schon in dieser Gegenüberstellung die Katastrophe, mit der Luciens erste Eroberung der Stadt Paris in Balzacs Illusions Perdues enden sollte. Bei Flicoteaux, in diesem Restaurant mit seinem karg gefliesten braunen Schaufenster, das alle Äußerlichkeiten, „für die Augen von fast allen heutigen Restaurantbesitzern zum Nachteil das Bauches eingerichtet,“ so entschieden von sich weist, finden sich viele der Fragen, die später die wesentlich ausschweifenderen Seiten unseres Romans und der Comédie Humaine im Ganzen bevölkern werden. Wenn man genau aufpasst, kann man sie sehen, wie sie gedrängt beisammensitzen an den Tischen, deren monastisches Aussehen den Betrachter zu der Vermutung verleitet, sie seien „irgendeinem klösterlichen Speisesaal entsprungen“.
    Flicoteaux, an der nordöstlichen Ecke der damals noch wesentlich kleineren Place de la Sorbonne gelegen, einer Straßenecke, die es seit dem Durchbruch des Boulevard St. Michel nicht mehr gibt (seine tatsächliche Existenz scheint im übrigen verbürgt, auch wenn dies hier nichts zur Sache tut), war nicht einfach ein Restaurant, sondern, in der Person seines Besitzers, „Freund der Jugend“, „père-nourricier“ – Ziehvater und vor allem Ernährer ganzer Generationen junger Pariser Intellektueller: Ein Essen mit 3 Gängen, einem Bier oder einem Schoppen Wein und vor allem „pain à discretion, c’est-à-dire jusqu’à l’indiscretion,“ war hier für 18 Sous, also 90 centimes, zu erwerben, noch immer knapp ein halber Tageslohn eines Arbeiters, aber weniger als die 50 Francs, die Lucien sein Ausflug zu Véry, einem der Tempel des guten Essens, gekostet hatte.
    Aber mit dem Hinschauen ist es bei Flicoteaux so eine Sache. Denn zuerst geht es um die Ernährung: Die prachtvolleren Restaurants tragen in ihren Schaufenstern bergeweise Fleischstücke, Fische und Gemüse zur Schau. Nicht mehr „primeurs“ sind diese, sondern „postmeurs“, wie der Erzähler betont. Flicoteaux mag mit derartigen Auslagen, die doch schon tot sind, nichts zu schaffen haben. Er will einzig Lebens-Mittel bieten, im eigentlichsten Sinn des Wortes – und das können nur Dinge sein, die dem Leben dienen, dem Körper zugeführt, genossen werden. Was den Tod erreicht oder, wie es das Wortspiel suggeriert, schon überschritten hat, das Leben transzendiert, ist hier fehl am Platze. Auch die Menschen, die hier essen, scheinen zunächst kaum attraktiv, „haben eine Schwere, die sich selten aufheitert“; es wird kaum gesprochen, eine Freundschaft allenfalls „entworfen“, um erst später, „in einem naheliegenden Café über den Flammen eines alkoholischen Punch oder der Wärme einer halben Tasse Kaffee“ besiegelt zu werden.
    Lucien, der schöne, ehrgeizige Dichter aus der Provinz hatte bereits nach seinen ersten Abendessen in unserem Restaurant einige sehr wegweisende Schlüsse gezogen: „Schon am Tag seines ersten Besuchs bei Flicoteaux hatte er in der Nähe des Tresens einen Tisch ausgemacht, wo ihm die Physiognomien der Speisenden, ebenso wie ihre flüchtig aufgeschnappten Gesprächsfetzen, literarische Gefährten anzeigten.“ Und nicht nur auf seinen geistigen Vorteil ist er bedacht, auch auf den materiellen (eine der verlorenen Illusionen besteht in der Erkenntnis, dass letzterer den ersteren bedingt und nicht umgekehrt): Er sucht sich auch deshalb einen Platz in der Nähe der Theke, weil er hofft, dort das Personal besser kennenzulernen, „und in Tagen finanzieller Schwierigkeiten würde man ihm so ganz ohne Zweifel den benötigten Kredit einräumen.“
    Diese beiden Strategien Luciens haben mehr miteinander zu tun als man annehmen könnte. Denn das Essen und die Art zu essen, materielle Grundlage des Lebens, die bezahlt werden will, macht das aus, was wir sind. Ganz biologisch, denn wir verwandeln uns all jene Stoffe an, die wir zu uns nehmen, aber auch „moralisch“, wie Brillat-Savarin, der große Gastrophilosoph des frühen 19. Jahrhunderts, formuliert, für den „die gourmandise ein Akt der Urteilskraft ist“, aus dem er berechtigterweise einen seiner grundlegenden Aphorismen ableiten kann: „Sag mir, was Du isst, und ich sage Dir, was Du bist.“ Wohlgemerkt, „was du bist“ und nicht „wer du bist.“ Das Essen ist also die zur Arbeit nötige Nahrungsaufnahme, aber als konstitutives Element der Arbeit selbst auch Teil von ihr. Flicoteaux weiß das, sein „Restaurant ist eine Werkstatt mit ihren Werkzeugen, und nicht der Festsaal mit seiner Eleganz und seinen Vergnügungen.“ Aber so klar sind die Grenzen hier gar nicht. Das Essen in unserem Restaurant ist der Arbeit aufs engste verwandt: „Man isst hier, nicht mehr und nicht weniger.“ Das aber steht keinesfalls für Uniformität: „man isst hier wie man arbeitet, mit düsterer oder heitere Miene, dem Charakter und den Umständen gemäß.“ Die Arbeit, das Essen, wird hier zu einem Erlebnis, wie es in der Kapitale sonst kaum zu finden ist, „nur wenige Restaurants bieten so ein schönes Schauspiel.“
    Noch das einfachste Essen bereitet uns ein Vergnügen – und sei es bloß die Befriedigung eines Bedürfnisses. Das erklärt sich schon aus der lebenserhaltenden Notwendigkeit der Ernährung – und bietet die Grundlage für alle Verfeinerungen, die schließlich in den Raffinessen des eleganten Lebens münden, dessen Ziel es ist, alle menschlichen Eigenschaften auf ein Maximum zu kultivieren, „die Herausbildung von Geschmack und Anmut in allem, was uns eigen ist,“ bestimmt Balzac für das Elegante Leben. Dies kann natürlich nicht mit Arbeit im herkömmlichen Sinne einhergehen. Der Künstler, der Geistesarbeiter dagegen, der einen guten Teil der Kundschaft Flicoteauxs ausmacht, ist von der strengen Scheidung in Arbeitsames und Elegantes Leben ausgenommen, die Balzac in seinem Traité de la vie élégante anlegt. Das künstlerische Genie, dem „sein Müßiggang Arbeit und seine Arbeit Erholung ist,“ wie es im Traité weiter heißt, genießt noch die Arbeit an seinem eigenen Körper, weiß die Revitalisierung zu erschmecken, die ihm die frischen, saisonalen Produkte bescheren, die Flicoteaux seinen Gästen serviert. So wird das Essen dort zu einer Art Allegorie der geistigen Arbeit, und das Spektakel, das sich dem Beobachter bietet, ist gleichsam Teil des großen Prozesses der Kunstwerdung, die letztlich unabtrennbar mit dem fertigen Werk zusammenhängt. Die Kunst der zuverlässigen Zubereitung bei Flicoteaux muss dabei den augenzwinkernden Vergleich mit der großen Malerei nicht scheuen, die Kartoffel „bietet sich dort seit dreißig Jahren im gleichen Gelbton dar, den Tizian so schätzte,“ und, so fügt der genaue Beobachter des weiblichen Geschlechts hinzu, „genießt ein Vorrecht, das ihr die Frauen neiden: so wie Ihr sie 1814 gesehen habt, so werdet Ihr sie 1840 wieder treffen.“ Natürlich stehen dem Künstler auch die Sphären der hohen Gastronomie offen; geht er dort dem Müßiggang nach, so arbeitet er an den Einsichten, die ihm den nötigen Einblick für das Verfassen der großen Gesellschaftsromane seiner Zeit geben.
    Freilich ist die Karriere, die Lucien Sechard de Rubempré bei Flicoteaux beginnt, keinesfalls die eines Musterschülers dieses Etablissements. Die Verlorenen Illusionen und ihre skrupellose Überkompensation durch Ehrgeiz und Hochmut führen zu einem nahezu tragischen Ende. Bei Flicoteaux dagegen hätte man mehr lernen können, als die Physiognomien der Bohème, ihre Lebens- und Arbeitsweisen einzuschätzen: „Der Student, der im Quartier Latin seine Zeit fristet, erlangt hier die genaue Kenntnis der Zeiten (des Temps).“ Dabei geht es natürlich zuerst um die Jahres-Zeiten: „Wenn der Merlan und die Makrele zu den Ufern des Ozeans schwärmen, dann finden sie sich bald bei Flicoteaux ein.“ Ebenso erfährt der aufmerksame Student der Tageskarte, „wann Bohnen und Erbsen sprießen, wann die Markthalle Kohl in Hülle und Fülle feilbietet, welcher Salat dort im Überfluss vorhanden ist, oder ob die Rote Beete eine Missernte hatte.“ Flicoteaux ist damit auf seine Weise eine genuin urbane Einrichtung: Das Restaurant fügt sich der kleinteiligen und bescheidenen Struktur des Quartier Latin, zeigt von außen nur seine schlichte Fassade und ist doch ein zuverlässigeres Fenster auf die Welt als die großen Restaurants, eignet sich die Welt dort draußen für die Stadt an. Die längst erstorbenen oder dem Tod durch Verwelkung bestimmten Auslagen anderer Restaurants dagegen sind bestenfalls geeignet, die „payses“, Stadtbesucherinnen vom Land, die von ihren Korporals-Kavalieren ausgeführt werden, in naives Erstaunen zu versetzen.
    Aber le Temps, mit Majuskel geschrieben, sind auch die Zeiten in einem weiteren Verstand. Denn Flicoteauxs Betrieb zeugt von den grundlegenden Mechanismen der Ökonomie, die das postrevolutionäre und frühindustrielle Frankreich bestimmt und die von den Gästen durchaus zur Kenntnis genommen wird, wie ein Gerücht bestätigt, das man sich dort in regelmäßigen Abständen erzählt, dass nämlich „das Auftauchen von Beefsteaks auf eine erhöhte Pferdesterblichkeit“ zurückzuführen sei. (Balzac betont dabei an anderer Stelle, dies zur Ehrenrettung, dass Flicoteaux noch nie jemandem Magenschmerzen bereitet habe.) Angebot und Nachfrage aber, das ersehen wir, machen das Angebot von Flicoteaux aus, ja sind die Grundlage der modernen Restauration überhaupt. Die ist ein Kind eben jener nachrevolutionären Jahrhundertwende, und, so betont Brillat-Savarin, hat die Betriebswirtschaft als wichtiges Fundament – die damit auch Fundament der dichterischen Arbeit ist.
Flicoteaux ist also eine Einrichtung, die nicht anders funktioniert als die Buchhändler, denen der junge Autor Lucien wenig später seinen ersten Roman anbieten wird – und die ihn mit ihren scheinbar so niedrigen Angeboten in seinen Illusionen erschüttern, und er konstatiert, dass „diese Buchhändler die Bücher betrachteten wie ein Strickwarenhändler seine Wollmützen, eine Ware, die teuer zu verkaufen und günstig zu beschaffen sein muss.“ Den Früchten des Genies in Balzacs Paris ergeht es wie den Früchten der Baumwollsträucher, der Felder, Bäume, Ställe, Meere und Flüsse – sie müssen einen Abnehmer finden, der sie kauft.

*Alle Übertragungen aus dem Französischen stammen vom Autor dieses Essays. Die einschlägigen Passagen über Flicoteaux finden sich auf den Seiten 208-213 der Ausgabe von Gaëtan Picon bei Gallimard Folio, Paris 1972.