Zu einem Vorwurf gehört dreierlei: ein Subjekt,
das den Vorwurf erhebt, ein Dativobjekt, gegen das er gerichtet ist,
und ein Akkusativobjekt, das den Inhalt des Vorwurfs ausmacht. Die
ersten zwei Elemente müssen nicht unbedingt zwei getrennte
sein, aber auch wenn das Nominativsubjekt sich selbst Vorwürfe
macht, so spaltet es sich im Vorwurf entzwei, und zwar erst durch ein
Drittes. Nur kommt dieses Dritte, das zwischen die beiden Parteien im
Vorwerfen tritt, nicht immer ganz klar zum Vorschein, so daß
das vorwerfende Subjekt wie auch das Objekt, an das sich der Vorwurf
richtet, nicht immer genau wissen, was oder wer dieses Dritte sei,
während sie doch beide der sich vollziehenden Handlung des
Vorwerfens ganz bewußt sind. Das Dritte aber, das
Akkusativobjekt, das den Sinn des Vorwerfens bestimmen soll, bleibt in
diesem Fall seltsamerweise von der Aktion unbetroffen. Sobald jedoch
ein Drittes als ein Anerkanntes aktualisiert wird in der Beziehung der
Zwei, die ihm in ihrem Miteinander einen bestimmten Platz
einräumen, wird dadurch die Beziehung selbst zu einer
dreiteiligen Beziehung, in der jede der Parteien in einer Relation zu
den beiden anderen zusammen und zu jeder der Parteien im einzelnen
steht. In solcher Beziehung kann aber nicht mehr von einem Vorwurf im
strengen Sinn gesprochen werden. Also besteht der Vorwurf nur insofern,
als das Dritte ein Unbestimmtes bleibt, das in der Beziehung der zwei
Parteien aus- bzw. außen vor bleibt.
Diotima wirft ihrem Gatten Tuzzi vor, er
schlafe nicht ruhig und störe ihren eigenen Schlaf. Nun ist
die tatsächliche Situation genau umgekehrt: sie selbst ist
diejenige, die nicht ruhig schlafen kann und den besonders gesunden und
tiefen Schlaf ihres Gatten – auf den er übrigens
recht stolz ist – durch ihre Unruhe stört. Was sie
ihm vorwirft, ist somit nicht der eigentliche Inhalt des Vorwurfs,
sondern ein Ersatz des Inhalts, der sie veranlaßt, den
Vorwurf zu erheben. Ihre Unruhe entsteht aus der Sorge um Arnheim, in
den sie sich verliebt hat, obwohl sie das noch nicht deutlich
wahrnimmt, und deshalb aus der Sorge um die Zukunft ihrer Ehe mit
Tuzzi. Die Störung des Schlafs entreißt sie dem
Tempo ihres gemeinsamen Lebens, an das sie sich einmal
anpaßte und das jetzt, in und durch ihren Vorwurf, aus der
Balance gerät. Der Rhythmus des Schlafs im Ehebett –
der breite Rhythmus
ehelicher Berührung[, der sich] rein
psychologisch in ihr zu einer Gewohnheit entwickelt [hatte], die ihre
Bahnung für sich besaß und sich ohne Verbindung mit
den höheren Teilen ihres Wesens wie der Hunger eines Knechtes
meldete2
– ist auf einmal gestört, so
daß
die beiden Gatten durch eine unbehagliche Lücke getrennt
werden und das Tempo ihres Zusammenseins, Zusammenschlafens und
Zusammenatmens in zwei vereinzelte, asynchrone Tempi auseinandertreibt.
Zum Vorwurf gehört eine
Störung im Einklang der Tempi des Zusammenseins, die mit
einemmal die beiden Parteien, die in den Vorwurf einbezogen sind,
auseinander und in je einzelne Zukünfte reißt. Der
Moment, in dem der Vorwurf gemacht wird, verschiebt ein Tempo gegen das
andere, wenn auch nur um ein Unbedeutendes, so daß die zwei
Tempi aus einem Miteinander in ein Durcheinander geraten. Das Dritte
aber, das Motiv des Vorwurfs angegeben wird, kann relativ belanglos
sein. Dem Subjekt, das den Vorwurf erhebt, geht es allein darum, eine
Störung im Miteinander hervorzurufen, um sich noch
in der
Gemeinsamkeit als
einzeln
zu behaupten. Nur solange das Miteinander
noch besteht, kann der Vorwurf als Bedrohung mit der möglichen
Trennung dargestellt werden. Derjenige, der vorwirft, droht dem Anderen
mit der Vereinzelung, indem er sich als unabhängig vom Anderen
erklärt, aber doch noch die Gemeinsamkeit betont, die als die
notwendige Kommunikationsebene für den Vorwurf bestehen
bleiben muß. Der Vorwurf erzeugt eine Spaltung, die nur
solange eine Spaltung bleibt, wie sie die Gemeinsamkeit erhält.
Auch die von Diotima geistig –
schöngeistig – geleitete "Parallelaktion" hat
grundsätzlich die selbe Struktur wie der Vorwurf, den sie
ihrem Gatten macht. Der Sinn dieses, wie der Vorwurf, in die Zukunft
gerichteten Unternehmens ist zu zeigen, daß die
Doppelmonarchie alles mit Deutschland teile, aber in dieser
Gemeinsamkeit doch anders und unabhängig sei. Dabei fehlt dem
Unternehmen jeder eigene Inhalt, wie schon der Ausdruck
"Parallelaktion" andeutet: der Inhalt ist beliebig ersetzbar durch
verschiedenste Variationen der geläufigsten Parolen, von "Los
von Rom bis Vorwärts zur Gemüsekultur".
3
In der Suche
nach einem Inhalt bemüht sich Diotima, eine
zusammenhängende "österreichische Idee" zu erfinden,
erkennt aber, daß es unmöglich ist, eine solche zu
formulieren. Und eigentlich geht es ihr um etwas anderes als einen
kohärenten Inhalt. Doktor Arnheim, dem Preußen,
erteilt sie die Aufgabe, die österreichische Parallelaktion zu
lenken. Ihre Alliance mit Arnheim soll die Synthese von
Österreich mit Deutschland
in nuce
repräsentieren;
dabei aber reicht der vage Ausdruck "die österreichische Idee"
nicht aus, um die beiden Parteien aneinander zu binden. Deshalb kommt
Diotima auf den Einfall, nicht mehr von der bloß
österreichischen, sondern – mit einer expansiven
Geste – von der
weltösterreichischen
Idee zu
sprechen, die ganz Europa miteinbezöge. Und "[als] Diotima
[…] das Wort Welt-Österreich ausgesprochen hatte,
ein Wort, das so heiß und fast auch so menschlich
unverständlich war wie eine Flamme, da hat ihn [d.h. Arnheim]
etwas ergriffen".
4 Die
Parallelaktion, wie sie Diotima mit ihrem
geistigen Auge sieht, ist ein sanfter Vorwurf gegenüber
Deutschland, das die Tatsache nicht anerkenn
t, daß
Österreich mit ihm vollkommen einig und doch anders, weil
überlegen sei: denn im
weltösterreichischen
Geist
muß ja auch der deutsche enthalten sein. Derjenige, der den
Vorwurf erhebt, zielt auf die Selbstständigkeit, bedient sich
aber des Mittels der Expansion, weil er den Anspruch auf
Unabhängigkeit neben dem Anpruch auf die Gemeinsamkeit
bestehen läßt. Der Vorwurf ist, seinem Wesen nach,
annexionistisch.