Der Vorwurf ist sprachliche Gewalt, er will verletzen, mit Worten
– Worten, die keine Worte sind, sondern Waffen:
Vorwürfe sind vor allem Lanzenwürfe; Sätze
und Worte genährt aus einer unausgesprochenen Frustration.
Stets in einem Heer von Spekulationen treibend, schwanger an
Hintergedanken und Vorurteilen, wirft sich der Vorwurf an die Brust
seines Gegners. Doch wie verhält sich der Angeworfene
(‚Anwurf’ ist nach dem Grimmschen
Wörterbuch ein Synonym dieses ‚Vorwurfs’)
und wie kann er den Würfen ausweichen? Es ist ja wenig
sinnvoll auf den sprachlichen Gehalt des Vorwurfs einzugehen,
entspringt er doch einem tiefer liegenden psychologischen Komplex:
–„Ja, du, du riskierst ja immer alles. Alles, was
dir einfällt, das tust du.“,
–„Soll das ein Vorwurf sein?“,
–„O nein, ich beneide dich darum.“ Wer
hier vorwirft, sich dann aber wieder zurückzieht, ist Olivier
Molinier aus Gides
Falschmünzern. Sein Freund Bernard hat ganz
richtig erkannt, dass man hier versucht, ihm einen Vorwurf zu machen,
weshalb er auch nicht weiter darauf eingeht, sondern ausweichend fragt
„Soll das ein Vorwurf sein?“ und das
Gespräch gleichsam eine Ebene höher schraubt.
Daraufhin zieht Olivier den Vorwurf zurück und gesteht,
bloß neidisch zu sein. Es war also der Neid, der hier jenen
Vorwurfversuch verursachte – ein Satz, den trüben
Tiefen menschlichen Empfindens entwichen. Der Vorwurf
übersetzt, er übersetzt ein Gefühl von
Schwäche, Neid etc. in Sprache – inklusive aller
Abweichungen, die eine Übersetzung vom Original aufweist.
Dabei zeigt sich die Schwäche doppelt: Erstens als
Gefühl, zweitens als Schwäche die Schwäche
auszusprechen. Stattdessen wird ein Vorwurf formuliert, sozusagen als
ein sprachlicher Schutz- und Deckmantel. Der Vorwurf wird lanziert,
für den Werfer vielleicht noch ergründbar –
für den Angeworfenen nahezu unmöglich auszulegen.
Schon allein deshalb, weil sein semantischer Gehalt von frappierender
Belanglosigkeit ist, je belangloser eigentlich, desto frappierender
noch für sein Gegenüber. Von tiefem Frust
genährt, sucht der Vorwerfende seinen Gegenüber
ebenfalls zu verletzen und das emotionale Gefüge zu
zerreißen. Er oszilliert zwischen Sprache und Effekt. Anders
als Werbeslogans zum Beispiel, die ebenso den Effekt suchen, aber einen
anhaltenden memorierbaren Effekt, ist der Vorwurf auf eine Zeitspanne
beschränkt, die nicht länger währt, als
seine Artikulation. Bereits die Replik auf den Vorwurf, ebenfalls
vorwerfend, zurückwerfend, ist kaum Replik, sondern vielmehr
der Versuch zurückzuschlagen, eine weitere Wunde zu
reißen. (Im Hintergrund sieht man schon die Gewaltspirale
aufflammen.)
Wie wird hier also gesprochen? Insofern der Vorwurf durch emotionalen
Druck zur Sprache kommt, ist er eine Art von Rede, die nicht um der
Rede willen entsteht, um einer Aussage willen – was immer das
heißen mag, angesichts diesen Umstands, auch ohne etwas
auszusagen, trotzdem Aussagen machen zu können –,
sondern aus einem andern Grund, jedoch aus einem, dem man der Rede
nicht ablauschen kann, die redet und auch nicht redet, die redet, aber
keinen Wert auf den bedeutenden Charakter der Rede legt, die als Rede
bloß Geste ist, Reden als Gesten.
In zwischenmenschlichen Beziehungen jedoch hat der Vorwurf die
wahrscheinlich noch geringste Bedeutung. Wichtig wird er dort, wo er
kontrolliert, instrumentalisiert, gezielt und systematisch eingesetzt
wird. Zum Beispiel in der Politik. Zum Beispiel in
künstlerischen Manifesten (Was wären die Surrealisten
gewesen ohne ihre Manifeste, die immer wieder aufs neue, in
Vorwürfen vor allem, ihre Andersheit betonten.). Aber auch in
der Philosophie. Auch hier ist nicht etwa der semantische Teil des
Vorwurfs von Belang, sondern die Geste. Interessant aber ist zu sehen,
wie er als ein rhetorisches Mittel eingesetzt wird. Denn er ist wohl
das rhetorische Mittel, um sich abzugrenzen, um Raum zu schaffen und um
so differenzierter für die eigene Sache eintreten zu
können – für die eigenen Ideen, Ideologien
und Pläne, und um so der Gefahr zu entgehen, für
andere zu sprechen, die vielleicht, ja man kann sogar davon ausgehen,
dieselbe Sache verfolgen. Der Vorwurf wird da sichtbar, wo immer
Individualisierung und ein Kontrast zu einer anderen Partei gesucht
wird.
Er ist immer ein Original gewesen. Das soll absolut kein Vorwurf
sein. Wozu dieser mildernde Nachtrag von Edouard (
Die Falschmünzer)? Eben weil dies ein Vorwurf ist –:
weil Originalität der Vorwurf schlechthin ist, weil
Originalität und Individualität einem Vorwurf
gleichkommen. Ich als Individuum stehe meinem Mitmenschen schon als
Vorwurf gegenüber.
Der gelehrte Vorwurf
Die Wörter ‚Vorwurf’ und
‚Kritik’ teilen ein ähnliches Schicksal,
oder besser noch: beide
teilt ein ähnliches Schicksal. Beide
ehemals Inbegriffe einer objektiven, einer objektivierenden
Betrachtungsweise, Inbegriffe von Wissenschaftlichkeit, sehen sich
mittlerweile dem Vorwurf – oder der Kritik –
ausgesetzt, nicht objektiv zu verfahren, sondern von Meinungen,
Stimmungen, Vorurteilen belastet zu sein. Dass der Vorwurf aber nicht
immer der war, den man heute kennt und den die wenigsten vielleicht
noch als einen anderen kennen, davon weiß das Grimmsche
Wörterbuch zu berichten. Ursprünglich meint der
Vorwurf nicht (An-)Klage, Schmähung, Tadel etc., sondern
schlicht ‚Gegenstand’. Entstanden als
mittelhochdeutsche Lehnübersetzung des lateinischen objectum,
bedeutete er
‚das Vorliegende’: ‚das vor
die sinne geworfene’ und damit dem subjekt
‚gegenüberstehende’, wie objekt <
oculo obiectum und griech. προβλημα, worauf das lateinische
zurückgeht (Grimmsches WB, Artikel
‚Vorwurf’). Später erst, im
Frühneuhochdeutschen, entsteht zusätzlich ein
weiterer, ein erweiternder Vorwurf als Nominalbildung zum Verb
‚vorwerfen’. (Interessant ist hier die Reihe von
Übersetzungen in der Etymologie des
‚Vorwurfs’, einmal lehnübersetzt aus dem
Latein, ein weiteres Mal als innergrammtische Übersetzung von
Verb zu Nomen.)
Gegenstand einerseits, Anklage andererseits – ein
Verhältnis, wie dasjenige zwischen Subjekt, auch
‚Satzgegenstand’ genannt, und Akkusativobjekt. Ein
Verhältnis, das allein schon dem Akkusativ innewohnt: das Verb
‚accusare’ leitet sich aus dem Wort ‚causa’ ab. Auch hier, der scheinbar
neutrale Fall, die Sache, der Gegenstand, der sich hier allerdings
nicht nur, wie im ‚Vorwurf’, mit der Anklage, wie
auch immer zufällig, kreuzt, sondern diese erst
sprießen läßt, erst sprechen
läßt, ihr erst Raum und Boden gibt. Auf diesen
unserem deutschen Fall gar nicht unähnlichen Umstand verweist
Michel Serres in seinem Buch
Der Hermaphrodit und strickt aus dieser
causa etymologica selbst eine accusa:
bereitwillig verwandeln sich die
Medien und die Universität in Gerichtssäle, wo man
über die Sachen, choses, und Ursachen, Fälle, causes,
debattiert – das ewig jüngste Gericht, die letzte
Instanz.
Der Vorwurf ist durchzogen von einer Gerichtsatmospähre,
bezeichnet in seinem Gesamtbedeutungsumkreis das Verhältnis
zwischen der Akte und dem Ankläger, der Akte, die dann mit
einigen §-Zeichen versehen die Anklageschrift darstellt.
Die Anklage-schrift, die Schrift
der Anklage ... Schrift ist, man nehme
diese Zeile zum Beispiel, Abgrenzung. Schrift ist, farblich oder
anders, von ihrem Untergrund und ihrer Umgebung abgehoben, zeichnet
sich im Verhältnis zu ihrer Umgebung durch Andersheit aus
– zieht, indem sie übers Papier hinwegzieht, die
Grenzen, innerhalb derer sie, ihre Umgebung gleichsam kolonialisierend,
herrscht; und dies, noch bevor sie Ausdruck, Inhalt, Form,
Schönschrift, Kalligraphie ist – graphie,
graphein:
(ein-) ritzen, schreiben, malen, wie ebenfalls nach Gemoll,
eine
schriftliche Klage einbringen – und
ho graphamenos ist
der Ankläger.
Die Schrift ist dasjenige, das trennt, das die
Gegenüberstellung, die Konfrontation sucht, ja
benötigt um kenntlich zu sein. Sie trennt Papier von Papier
oder Stein von Stein, Grammatik von Grammatiklosigkeit, Gesetz von
Gesetzeslosigkeit. Die Schrift unterwirft das wilde gesetzeslose,
ungesetzte (der Setzkasten des Druckers als Gesetzkasten) Papier ihrer
Grammatik; die Anklageschrift unterwirft den Angeklagten dem
Gesetzesbuch, am Verurteilten erstellt das Gesetz sein Exempel, der
Verurteilte ist das Vorzeigeobjekt der Gesetzesmacht... auf dem
beschriebenen Papier lässt sich die ganze Grammatik einer
Sprache ablesen: Nomen und Substantive, Fälle, Konjugationen
und Deklinationen, Neben- und Hauptsätze, Motiv,
Konjunktionen, Subjekt, Verb, Tuwort, Tat, Täter, Adjektiv,
Kausalsätze, Begründung, Fragewörter,
adverbiale Bestimmungen der Zeit und des Ortes, Aussage, Ursache,
Hilfsverben ... Papier, Wachstafel, Stoff und Leder, Steine aller Art
– die Grammatik weiß mit allen Härten und
mit allen Fällen umzugehen; aus ihr könnten noch
unzählige Codizes, Verfassungen und Gesetzbücher
hervorgehen.
Als Herrin deckt die Sprache alle Bedürfnisse (!): So hält es auch die Tyrannei. (H.Michaux,
Von Sprachen und Schriften, Graz-Wien, 1998.)
Die Grammatik macht sich ihren Gegenstand zu eigen,
welcher Art er auch sein mag, jeder Gegenstand, jeder Vorwurf, ist ihr
von vornherein unterlegen, ist der je ihrige. Das Gesetz ist nicht das
letzte Gesetz, ihm überlegen ist das Gesetz der Grammatik, die
Grammatik. Fragt man sich weshalb es Gesetze gibt: Gesetze als
Nachahmung, als plumpe Nachahmung dessen, woraus sie gemacht sind, als
größenwahnsinniger Höhenflug der Grammatik,
Gesetze als die Grammatiktreue überhaupt. Gegen das Gesetz
verstoßen, heißt zunächst gegen die
Grammatik, in der die Gesetze geschrieben stehen, zu
verstoßen; die Rechtschreibübungen in den Schulen
sind ja gleichzeitig Übungen in Gesetzestreue. (vgl. Foucaults
Überwachen
und Strafen)
Kafkas Maulwurf
Der Vorwurf im Sinne von Gegenstand gegenüber dem Vorwurf als
An-, Klage, beide vereint unter denselben Buchstaben, haben sie ein
Verhältnis mit- und zueinander? Und ist der neutrale Fall
tatsächlich so neutral, oder, indem er Ursache, causa, einer
Anklage ist, auch immer zu einer Anklage wachsen kann, mehr als nur
eine mögliche Anklage, nämlich schon eine Klage, die
sich Gehör verschaffen will?
In Kafkas unvollendeter Erzählung
Der Dorfschullehrer (in
Brod-Ausgaben unter dem Titel
Der Riesenmaulwurf zu finden) haben sie
ein Verhältnis zueinander. Darin zieht die Entdeckung eines
riesigen Maulwurfes eine Kette von Vorwürfen mit sich, oder
vorwurfsvoller ausgedrückt: Die Entdeckung eines Maulwurfes
wird Vorwurf mehrerer Vorwürfe, die wiederum weiteren
Vorwürfen als Vorwurf dienen. Kafka bricht die Arbeit an der
Erzählung denn auch mit zwei Vorwürfen an sie und einen an sich ab. Am 26. Dezember 1914 schreibt Kafka in sein Tagebuch:
Heute abend fast nichts geschrieben und vielleicht nicht mehr imstande den Dorfschullehrer fortzusetzen, an dem ich jetzt eine Woche arbeite und den ich gewiß in 3 freien Nächten rein und ohne äußerliche Fehler fertiggebracht hätte, jetzt hat er trotzdem er noch am Anfang ist, schon zwei unheilbare Fehler in sich und ist außerdem verkümmert, und knapp zwei Wochen später, am 6. Januar 1915:
Dorfschullehrer und Unterstaatsanwalt vorläufig aufgegeben. Es scheint das
Schicksal des Vorwurfs zu sein, worüber Kafka ja auch zu
schreiben gedachte, dem er sich aber letztendlich auch nicht entziehen
konnte, stets zu neuen Vorwürfen Anlass zu geben –
als ob die adäquate Antwort auf einen Vorwurf wiederum nur ein
Vorwurf sein kann. In der Animalifikation – von
Personifikation kann hier nicht die Rede sein – des Vorwurfs
im Maulwurf geht Kafka jedoch weiter. Er legt damit den Vorwurf mitten
ins Zentrum der Sprache: in den Mund, ins Maul.
‚Maulwurf’ läßt sich auch lesen
als ‚Wurf des Mauls’ oder ‚Maul des
Wurfs’, ‚Maul des Werfens’. Und wohin
sollte es werfen, wenn nicht vors Maul? Und was macht das Maul anderes,
das je schon ein werfendes Maul ist, als vor-werfen?