Girards Vorwurf

Achim Stanislawski




In einem Text, der zum Vorwurf des Antisemitismus in  den Evangelien Stellung bezieht, zitiert René Girard einen Ausspruch Jesu:
„Was heißt es, wenn in dem Psalm geschrieben steht: Der Stein, den die Bauleute verwarfen, ist zum Eckstein geworden?“
Ein Stein in der Bibel, ist auch immer Petrus. Petrus, dessen Name Fels bedeutet. Von ihm sagte Jesus, dass er der Stein werden sollte, auf dem er sein Haus bauen wolle. Petrus war die Stimme der Jünger, der Gründer der ersten Gemeinde. Heute bildet sein Grab den Grundstein des Katholizismus, bewachen die Päpste eifersüchtig das Mandat, welches er an sie weitergegeben haben soll.
Doch es gibt viele Steine in Judäa und einige davon bringen den Tod. Denn es ist Petrus, der sprechende Fels, der Jesus verleugnet. Während dieser von dem Hohepriester verhört wird, spricht eine Magd Petrus an und fragt ihn, ob er nicht zu diesem Mann, der König der Juden sein will, gehöre. Da verleugnet Petrus Jesus und flucht und schwört diesen Mann nicht zu kennen, dessen Verklärung er mit eigenen Augen gesehen hat. Doch dieser Skandal macht Petrus nicht zum verworfenen Stein, er wird ganz im Gegenteil zum Grundstein einer neuen Religion. Die Kirche ist der Fortgang der Trauer, die der Gedenkstein Petrus auf Jesu Grab war. Sie ist der gewaltige Stein, der stellvertretend auf dem Grabe Petrus liegt, auf eine gewisse Weise als ein ver-worfener Stein, einer der nicht dort landete, wohin er gezielt war.
  Neben Petrus sind aber noch zwei andere Männer in den Skandal der Kreuzigung verstrickt. Girard verbindet in seinem Buch zu der verkannten Stimme des Realen, ein anderes Wort Jesu, skandalon, mit seiner Theorie archaischer Elemente in dessen Geschichte. Skandalon ist das Ärgernis, das uns an einem Hindernis begegnet, an dem wir uns ständig stoßen. Es ist der Stein des Anstoßes, der uns immerdar begleitet, um den wir nicht herum kommen. So ist die Gangart, des im skandalon Befangenen ein Hinken, ein ständiger Schmerz, von dem wir, wie von eine nässende Wunde, trotz der Schmerzen nicht lassen können. Der Skandal bohrt in uns und wächst sich so vom intimen Gefühl zum kollektiven aus. Deshalb hat auch Petrus Anteil an dem Ärgernis an Jesu, deshalb kann man auch Petrus auf dem Passionsweg in der Menge stehen sehen, aus der die Steine auf die ihre Kreuze schleppenden Verurteilten fliegen. Auch er kann Teil der Masse werden, aus der das Pogrom entstehen kann. Doch wiegt seine Verleugnung minder schwer, als der Verrat des Judas, der beim letzten Abendmahl voller Hunger die Hand nicht zurückhalten kann und mit Jesus in die Schale greift. Dies qualifiziert ihn zum Verräter par excellance. Denn seine Berührung gefährdet das Sakrament der Eucharistie. Anders als Petrus wird ihm sein Hunger nicht vergeben, vielmehr vergibt er sich selbst nicht und bringt sich um, nachdem er von Jesu Tod gehört hat. Er gründet keine Kirche, aber einen Friedhof, den Blutacker, der von dem für den Verrat verdienten Geld gekauft wird. Er wird viel weiter verworfen. Er erbt den Gottesacker, wie Kain, der ohne Abel mit dem Mal und der Krankheit zum Tode leben muss. Petrus wird gegen den grellen, goldenen Hintergrund der Heiligmäßigkeit gestellt. Er wird der heiligste der Jünger, der den Schlüssel zum Himmel führt. Doch gerade gegen ihn erhebt Girard den Vorwurf, gerade ihn macht er zur nässenden Wunde in uns. Dieser Vorwurf profanisiert wiederum durch Anlangen den Heiligen, denn Girard fasst Petrus als Menschen an. Er macht den Versuch, und betritt dabei brachliegendes Gebiet, gar gemiedenes Gebiet, nicht den Somnambulismus des in seiner Heiligkeit wandelnden Jüngers Jesu auszudeuten, sondern zu dessen Soma, auf ihn zu deuten. Denn noch vor aller Überzeugung, noch vor dem Bewusstsein der Verklärung Jesu, ist Petrus, ebenso wie Judas, an seinen Leib gebunden. Diese double- bind  an den Körper und den Bund, den Gott mit seinem Volk schloss, ist das Dilemma, das Judas in den Tod und Petrus in die Mission schickt. Darum teilt er das Ärgernis an Jesu, darum ergreift auch ihn das skandalon.
Der Makel, dass der Mensch sogar im Angesicht Gottes sich nicht einsichtig zeigen kann, sondern ihm auch das Offenbarwerden zur Ver-Klärung, zum Verwischen des Offenbaren werden kann, gilt als die größte aller Sünden. Das Alte Testament kennt den Brauch einen Bock mit Sünde zu beladen und in die Wüste dem Dämon Asasel zu schicken. Dieser Dämon, der in der Apokalypse die Gefallenen Engel führt, speist sich an dem Tier und den Sünden, die wie eine Infektion durch die Berührung weitergegeben werden. Hier ist die Berührung die Weihe. Bezüglich des größten aller Sündenböcke, Jesu, ist dieser Mechanismus der Sühne ähnlich und doch anders. Denn Jesus ist vor allem, noch vor seiner Göttlichkeit, ein Mensch.
   In der Genesis 4.7 spricht der Herr zum eifersüchtigen Kain: „Warum überläuft es dich kalt und warum senkst du deinen Blick?/ Nicht wahr, wenn du recht tust darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon./ Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Heer über ihn.“ Daraufhin führt Kain seinen Bruder aufs Feld und erschlägt ihn mit eben den Knochen des Bocks, den dieser zuvor geopfert hatte. Die Sünde wiegt stets schwerer und das Ärgernis, muss nach einem Wort Jesu, das Girard zitiert,  ja notwendig wachsen. Der Sündenbock reinigt von den Sünden, doch er kräftigt auch den Dämon, über den man nicht Herr wird. Das Mal, dass der Mensch der Gesetze bedarf, um unter Seinesgleichen leben zu können und das diese Gesetze dennoch übertreten werden, indem die Gemeinschaft sie kollektiv überschreitet, ist der wunde Punkt, an dem Girard nicht aufhört zu pulen. Das Blut des Bockes, das man zum Paschafest an die Türschwelle schmiert, versöhnt nicht, es schiebt das Eindringen des Dämons nur auf. Der Knochen und der Stein können zu Waffe werden, weil der Dämon nicht nur in der Wüste, sondern auch in den Menschen haust. Der Dämon ist somit nicht nur ein wirkende Kraft auf den Menschen zu, sondern mitunter, wie es Agamben andeutet, seine intimste, aller innerste Stelle. Dass es keinen Kern im Vernunfttier gibt, sondern gerade dort wo er vermutet wird das absolut Fremde sitzt, mit dieser dumpfen Ahnung argumentiert Girard. Auch das skandalon gehört zu diesem Bereich. Jesu hat, wie das Zitat zum Ärgernis zeigt, dies verstanden, wohl durch die eigene Erfahrung. Denn er widerstand der Versuchung durch den Teufel. Doch ist er auch Mensch. Die vielleicht einprägsamsten Worte Jesu, desgleichen die gewaltigsten Worte, sind zugleich seine letzten. Kurz bevor er nach der tagelangen Qual am Kreuz sein Leben aushaucht, schreit er „Mein Gott, mein Gott! warum hast du mich verlassen?“ In dem Bruch, in dem Jesu sich „allzu menschlich“ zeigt, siedelt seine Heilsverkündung. Nicht allein von  diesem Gott, sondern zuallererst von dem Verständnis des Dämons geht sie aus. Götter kommen und sterben unter den Händen der Gläubigen. Wie Girard zeigt ist dieser kollektive Lynchmord die eigentliche Stiftung der Religion und des Kult. Nicht ihrer Form, denn sie bedürfen keiner, sondern einzig dem Prozess in den Menschen sollte darum das Augenmerk gelten. Dort gilt es zuzupacken, wie es der dritte Mann im Umfeld der Passion tat. Als Jesu nämlich auf seinem Weg über das skandalon stolpert und hinfällt trägt der soeben vom Feld kommende Simon das Kreuz eine Zeit lang für ihn. Simon, der zum Acker zurückgekehrte Kain, mit seinem kleinen Beitrag, könnte mitunter, nachdem sein Ahnherr verworfen wurde, zum eigentlichen Eckstein der Heilsgeschichte werden. Doch warum verstummt er im Folgenden und lässt Petrus zur Stimme werden?
Erinnern wir uns daran, wie der Name des Mannes lautete, der zu Petrus wurde.



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