Blanchot lesen - Vortrag von Hans-Jost Frey

Eine interaktive Mitschrift

von Martin Herrnstadt


« toujours cette angoisse
 au moment d’ecrire... »

Eine ernstgemeinte Beschäftigung mit dem Schriftwerk Blanchots ist nur innerhalb der Einsicht möglich, dass Lesen und Verstehen keine analog zu verstehenden Modi sind. Für Blanchot ist der Text kein Widerstand und das Lesen nicht sinnstiftend in dessen Überwindung. Um das Lesen als Lesen zu denken muss es als grundlegende Zustimmung, als eine Bestätigung des Beschriebenen gedacht werden: Lesen heißt machen, dass das Buch sich schreibt; die Befreiung des Werks aus der Abhängigkeit von seinem Autor, aus den Grenzen des Buches, ohne eine Zustimmung im Sinne des Einverständnisses mit der Intention des Autors. Die Lektüre ist die neutrale Ermöglichung des Geschriebenen.

In diesem Sinne ist der Leser nicht produktiv, er lässt entstehen. Es ist ein „Lassen“, das Blanchot in seinem „faire“ be-schreibt. „Machen das das Buch sich schreibt“ :

„Le mot faire n’indique pas ici une activité productrice: la lecture ne fait rien, n’ajoute rien; elle laisse être ce qui est; elle est liberté [...]qui accueille, consent, dit oui, ne peut que dire oui et, dans l’espace ouvert par ce oui, laisse s’affirmer la decision bouleversante de l’oeuvre, l’affirmation qu’elle est – et rien de plus.” – L’espace litteraire S. 255

  Lesen ist hier verstanden als Schaffung eines Raums in dem Empfangen werden kann, als Distanznahme und „Räumung“ („l’espacement“), durch die allererst das Werk existieren kann.„L’espacement“ bedeutet hierin den Entzug der Herrschaft eines Autors, der Autorschaft allgemein, da ihr das Werk entzogen ist und in unüberwindbarer Distanz zu ihm steht; den Autor letztendlich zu seinem eigenen Leser macht.

Anonymisierung von Autor und Leser: die literarische Kommunikation ist kein Austausch, kein Gespräch. Die Abhängigkeit des Werks von der Person, hieße das Werk wäre nichts außerhalb dieser. Blanchots anliegen ist es vielmehr den Untergang der Person im Lesen zu erkennen.

Der Streit der Methoden ist der Streit über das Be-greifen der Literatur, die Lektüre ist jedoch dasjenige, das nicht in der Beherrschung sondern im Lesen besteht und nur so stehen bzw. der Lektüre bei-stehen kann. Es ist die Ermöglichung für das Werk sich mitzuteilen.
Der Dienst am Text ist demgemäß immer ein Autorenkult, die kultische Inaugurierung eines Autors der selbst bloß durch fremde Inanspruchnahme konstituiert wurde.
Paul de Man sieht das Ziel des Lesens bei Blanchot darin, das Werk nicht verstehend zu entstellen (De Man 1966) und so an die wahre Wirkung des Werkes, die wahrhaft deutende Sprache, die echte Interpretation heranzureichen. Er stellt die Frage, wie sich eine Interpretation darstellen würde, die dem Lesen entsprechend wäre, als einer inständigen Öffnung. Hierin erkennt er auch das Projekt der Dekonstruktion, nämlich der Selbstoffenlegung des Lesens, seinem eigenen Konstruktionscharakters gemäß, die in einer Rückgabe der Anonymität an das Werk mündet, indem das Lesen nur als  Schreiben realisiert werden kann. Ob diese ‚Interpretation’ Blanchots durch De Man, dem von Blanchot beschriebenen Lesen gerecht wird ist jedoch fraglich, in dem Maße wie noch immer eine Konstruktion, eine Offenlegung von Etwas selbstständigem, unangetasteten hinter, oder unterhalb des Textes vorgestellt wird, das als ein Schreiben zum Erscheinen gebracht werden kann. Blanchot spricht sich dazu deutlich genug aus wenn er den Status des Schreibenden zu fassen versucht:

 „L’écrivain appartient à un langage que personne ne parle, qui n’adresse à personne, qui n’a pas de centre, qui ne révèle rien. [...] La où il est, seul parle l’être, - ce qui signifie que la parole ne parle plus, mais est, mais se voue à la pure passivité de l’être.“ [S.21 L’espace littéraire]

Wenn also der Schreibende nichts zu entdecken hat, dann kann es nicht die Aufgabe des Lesers sein nach diesem Wesenszentrum der literarischen Produktion zu suchen.

Die Erweckung des Lazarus ist als eine Allegorie des Lesens zu verstehen: „Lazare, veni foras“ . Das Lesen als die Auferstehung des Geschriebenen zu betrachten, das im Gegensatz zum Ungelesenen steht, welches Tod auf seine Auferstehung wartet. Tragende Unterscheidung Blanchots ist diejenige von Livre~Text(Buch) und Oevre~Werk. Das Werk erscheint durch das Buch hindurch indem es sich entzieht. Dass es erscheint ist dabei ein problematischer Ausdruck, da es nicht hervortritt oder zum Vorschein kommt. Es ist kein „als ob“, oder ein „etwas als etwas“, das als eine Anlage im Buch auf das Werk hinweist und hierin einen privilegierten Weg zu den hinter dem Text verborgen Zeichen freilegte. Für Blanchot ist hier der Wesensunterschied von wissenschaftlichen und künstlerischem Text evident: Ersterer spricht sich im Konsens aus, er operiert mit einem im voraus stabilisierten Zeichen- und Begriffskanon und ist so immer schon Affirmation eines bestehenden Diskurses, der ein bestimmtes Lesen im Sinne eines Verstehens anbietet; der künstlerische Text findet dagegen keinerlei Garantien in der Welt, sein gelesen werden ist nicht in ein Gitter starrer Signifikanz gebettet, er tritt in die Existenz im partikulär qualitativen Augenblick seiner Lektüre, als wäre er nie zuvor gelesen worden, im Bild gesprochen wird er vom Leser erweckt.

In seiner Erweckung ist es jedoch noch der jeweilig aktuelle Text, das jeweils aktuelle Lesen, das unumgehbar den Zugang zum Werk als Schaffensgrund des Textes, als der ursprünglichen Quelle der Inspiration zu verdecken scheint.  Das Werk entzieht sich, es ist verborgen durch die Evidenz des Buches. Das Bild des Lazarus wird zum Bild des Grabes Jesu, das durch den Stein, der es verschließt, im Verborgenen liegt. Das Buch ist der Stein, der das Grab verschließt, doch hinter demselben wartet die Leere.
Wenn die Präsenz des Werkes somit keine Verfügbarkeit impliziert, in dem Maße wie das Buch verfügbar ist, dann ist seine Existenz derjenigen des auferstandenen Lazarus ähnlich, der weder der Welt der Lebenden noch der Totenwelt zugehörig ist („du mal obscure“). Das Werk wie auch Lazarus sind dem Tod und dem Leben gleichzeitig entrissen. Es ist die Auferstehung des Toten als Toten, durch die die Grenze zwischen Leben und Tod, also der Tod selbst verloren geht.

Die Erweckung in die Verfügbarkeit findet im Reden/Nennen mit dem Tod zusammen. Wenn etwas verfügbar wird, erscheint, wird es als Sein ausgelöscht, obwohl es allererst mit der Rede auftauchte. In seiner Erscheinung erlischt es, seine Erscheinung ist das Erlöschen, die Nacht als Ort der Erscheinung.  Das Seiende wird so zum Auferstandenen im Geist, die Auferstehung des von der Sprache getöteten und in die Idee getretenen. Der Lazarus der Literatur ist die wirkliche Verwesung des Wirklichen. Der Lazarus steht für das Werk, wie der Tod als das Unverfügbare für das Werk steht, welches sich dem verstehbaren Ganzen des Buches mitsamt der Autorschaft entgegenstellt. Es ist diese weltlose Existenz, die sich in der Wendung „il y a“ oder dem „neutre“ in Blanchots Schriften ausdrückt.

Das Buch wird als Werk erschlossen, nicht in dem es verstanden sondern indem es gelesen wird. Das Lesen ist nicht als die Freilegung zu verstehen, die eine Tiefe hinter der Oberfläche des Buches offen legt, denn hierin wäre das Werk etwas das vom Buch getrennt, aus ihm herausgelöst werden könnte, es würde zur Bedeutung, zur Referenz in der Welt der Erscheinung.

Das Buch wird nur dann zum Werk, wenn es als das gelesen wird was untergehen muss um befreit zu sein und so die Möglichkeit öffnet den Autor von seiner Stimme zu lösen. Der Leser will kein Grab öffnen, denn das Grab selbst ist die Erscheinung seines Inhalts. Buch und Werk sind nur in der es sein bzw. erscheinen lassenden Lektüre zu trennen. Das Werk manifestiert sich in der opaken Undurchsichtigkeit des Buches:

„ Tel est la caractère propre de „cette ouverture“ dont la lecture est faite: ne s’ouvre que ce qui est mieux fermé ; n’est transparent que ce qui appartient à la plus grand opacité ; [...] le passage du monde où tout a plus ou moins de sens, où il y a obscurité et clarté, à un espace où , à proprement parler, rien n’a encore de sens, vers quoi cependant tout ce qui a sens remonte comme vers son origine.” (l’espace litteraire S.258)

Die opake Materialität der Sprache, die nicht im Sinn gefasst werden kann eröffnet dasjenige, was sich nicht sagen lässt. In der Weise ist das Lesen der Zugang zu dem was gar nicht geschrieben ist. Hierin spricht sich das „Ja“ die Affirmation des Lesens für Blanchot aus, die die fundamentale Sprachlichkeit des Textes anerkennt: Eine Lektüre ist niemals reduktiv, für die Interpretation ist die Unverständlichkeit das Ende und die Möglichkeit. Sich auf das Unverstandene einzulassen zeichnet das Lesen als nicht-reduktiv aus. Die nicht-reduktive Lektüre hält die Öffnung aufrecht in dem Bestehenlassen der Sprachlichkeit, dem Aufrechterhalten der Distanz, der nicht Reduzierbarkeit auf ein Gesagtes.
 
Die Figur des Unsagbaren im Text ist die „Katachrese“: Das Buch ist die Katachrese des Werkes, sein gebrochener Ausdruck, das was sich nicht eigentliche beschreiben lässt, da sich keine nähere oder entferntere Ähnlichkeit mehr zur synthetischen Aktion anbietet. Die Katachrese besteht da wo der Name fehlt, wo kein eigentlicher Sinn verfügbar war. Der „Tod“ der Sprache also, Katachrese, Leichnam der Worte, der in der Einsamkeit des Ausdrucks, der Einsamkeit des sich Ausdrückens manifest wird und in Blanchots Worten die „solitude essentielle“ ausmacht, den negativen Ausdruck der Schaffensgewalt des Menschen, deren Ausführungen einen fundamental-ethischen Charakter annehmen:

„Le Moi solitaire se voit séparé, mais n’est plus capable de reconnaître dans cette séparation la condition de son pouvoir, n’est plus capable d’en faire le moyen de l’activité et du travail, l’expression et la vérité qui fondent toute communication extérieure. [...] le néant est mon pouvoir, que je puis ne pas être : de là vient liberté, maîtrise et avenir pour homme.” (S. 339)

Die Katachrese verweist gleichermaßen fundamental auf den informellen und konventionellen also propositionalen Charakter der Sprache, da sie im eigentlichen Sinne „das  Sprechen über“ das Unbekannte, das Paradoxe oder Alogische ermöglicht. Diesem Mitteilungscharakter der Sprache entgegen ist die Lektüre, das Lesen, die Katachrese dessen was der Text zu sein versucht. In der Eröffnung des Bruchs, des Hiatus, innerhalb der Sprache selbst den die Katachrese andeutet, kann aus der Sprache die Negation zurückgewonnen werden, in dem sie sich selbst in der Dunkelheit ihrer Tiefe zeigt: Sprache bedeutet nicht nur sondern sie ist (als dieser Hiatus), hierin liegt die Möglichkeit der nicht-informellen Katachrese.

Jedoch bleibt in der Materialität der Sprache etwas opak Verweisendes übrig: Das Unsagbare ist an der bloßen Faktizität der Sprache ablesbar aber nicht verstehbar. Hier endet der Kreis von Sagen und Verstehen. Das Werk erscheint in der Lektüre als dieser Widerstand des Entzugs von Sinn, dem nur nachträglich und operativ begegnet werden kann. In dieser Weise schließt das Verstehen immerschon in dem Maße das Urteil ein wie es selbiges ermöglicht. Die Distanz von Lesen und Urteil wird deutlich. Blanchots Ort kann nur der des Lesens sein, von dem aus er den Anspruch erhebt, dass ein Text das Lesen zulassen muß, denn es gibt Texte die gegen das Werk in sich arbeiten. Diese Autoren sind dem Anspruch des Werkes untreu, sie richten sich an den Verständigen anstatt auf den Leser zu warten. Texte dieser Art müssen gegen sich selbst gelesen werden (Bsp. Proust „temps perdu“). Ein zentrales Merkmal ist hier die Beschreibung der Erfahrung: Die Erinnerung des Vergangenen als Auflösung der Angst bei Proust.(‚Vopat’) Die lineare Zeit braucht ein Ziel, ohne diese religiöse Vorstellung verliert sich das Gefühl in der Angst, denn Vergangenheit und Gegenwart werden ausserhalb einer gerichteten universalen Zeit des Fortschritts ununterscheidbar. Proust ist für Blanchot der Interpret seiner eigenen Erfahrung, mit dem Anspruch sie zu kontrollieren. Für Blanchot jedoch ist das Schreiben der Erfahrung ausgesetzt und das heißt, dass es nur noch ein Schreiben der Erfahrung als Erfahrung des Schreibens geben kann, welche nicht im operativen Arrangement eines Schreibens-Über, also eines Überschreibens der Erfahrung mündet, wie sie in Prousts Meisterung der Zeit inszeniert ist. In diesem Sinne ist die Trennung von Schreiben und Beschriebenem aufgehoben.

„Le Temps de recit“, die Zeit der Erzählung ist die reine Zeit in der N/nichts geschieht, die Ereignislose Zeit. Den Roman zu lesen bedeutet das „recit“ in ihm erscheinen zu lassen. Das „recit“ beginnt an dem Ort wo die Herrschaft endet, denn die Erzählung ist nicht ein bloßer Bericht eines Ereignisses der angeeignet und gebraucht werden kann, sondern der Charakter der Erzählung wird gespürt und ist so das Ereignis selbst: Das „recit“ geschieht als das, was es erzählt. Es ist der fundamental erzählerische Bezug zur Zeitlichkeit (vergl. bspw. Ricoeur, „Temps et Recit“), der von der Erfahrung der richtungslosen imaginären Zeit motiviert ist, welche sich im Lesen der Erzählung aktualisiert: Der Leser hat keinen Standpunkt, sonst liest er schon nicht mehr.

Es wäre jedoch verfehlt und vorschnell das Lesen und die Interpretation als Gegensätzliche Begriffe zu  verstehen, als ob sie in einer Beziehung des „Entweder – Oder“ zueinander ständen, vielmehr bildet das Lesen, die Erfahrung der Zeitlichkeit der Existenz, die Erfahrung der Zeit im Allgemeinen überhaupt erst die hermeneutische Ausgangsposition jedweder Interpretation. Das Lesen unterläuft somit den Akt der Interpretation und des Verstehens, als die sich aus der Öffnung zum Geschriebenen erhebenden, vorgängigen Passivität des Erleidens der Zeit, welche das Ereignis darstellt, das den grundlegend erzählerischen Bezug des Menschen zur eigenen Zeitlichkeit motiviert.

Anmerkung zum Text: Der Schreiber erhebt keinen Anspruch darauf den Vortrag von Hans-Jost Frey in repräsentativer Weise wiederzugeben, vielmehr stellte der Vortrag und seine Struktur eine starke Anregung und Hilfe dar, den Spuren des Gesagten nachzugehen