Eine ernstgemeinte Beschäftigung mit dem Schriftwerk Blanchots
ist nur innerhalb der Einsicht möglich, dass Lesen und
Verstehen keine analog zu verstehenden Modi sind. Für Blanchot
ist der Text kein Widerstand und das Lesen nicht sinnstiftend in dessen
Überwindung. Um das Lesen als Lesen zu denken muss es als
grundlegende Zustimmung, als eine Bestätigung des
Beschriebenen gedacht werden: Lesen heißt machen, dass das
Buch sich schreibt; die Befreiung des Werks aus der
Abhängigkeit von seinem Autor, aus den Grenzen des Buches,
ohne eine Zustimmung im Sinne des Einverständnisses mit der
Intention des Autors. Die Lektüre ist die neutrale
Ermöglichung des Geschriebenen.
In diesem Sinne ist der Leser nicht produktiv, er lässt
entstehen. Es ist ein „Lassen“, das Blanchot in
seinem „faire“ be-schreibt. „Machen das
das Buch sich schreibt“ :
„Le mot faire n’indique pas ici une
activité productrice: la lecture ne fait rien,
n’ajoute rien; elle laisse être ce qui est; elle
est liberté [...]qui accueille, consent, dit oui, ne peut
que dire oui et, dans l’espace ouvert par ce oui, laisse
s’affirmer la decision bouleversante de l’oeuvre,
l’affirmation qu’elle est – et rien de
plus.” – L’espace litteraire S. 255
Lesen ist hier verstanden als Schaffung eines Raums in dem
Empfangen werden kann, als Distanznahme und
„Räumung“
(„l’espacement“), durch die allererst das
Werk existieren kann.„L’espacement“
bedeutet hierin den Entzug der Herrschaft eines Autors, der Autorschaft
allgemein, da ihr das Werk entzogen ist und in unüberwindbarer
Distanz zu ihm steht; den Autor letztendlich zu seinem eigenen Leser
macht.
Anonymisierung von Autor und Leser: die literarische Kommunikation ist
kein Austausch, kein Gespräch. Die Abhängigkeit des
Werks von der Person, hieße das Werk wäre nichts
außerhalb dieser. Blanchots anliegen ist es vielmehr den
Untergang der Person im Lesen zu erkennen.
Der Streit der Methoden ist der Streit über das Be-greifen der
Literatur, die Lektüre ist jedoch dasjenige, das nicht in der
Beherrschung sondern im Lesen besteht und nur so stehen bzw. der
Lektüre bei-stehen kann. Es ist die Ermöglichung
für das Werk sich mitzuteilen.
Der Dienst am Text ist demgemäß immer ein
Autorenkult, die kultische Inaugurierung eines Autors der selbst
bloß durch fremde Inanspruchnahme konstituiert wurde.
Paul de Man sieht das Ziel des Lesens bei Blanchot darin, das Werk
nicht verstehend zu entstellen (De Man 1966) und so an die wahre
Wirkung des Werkes, die wahrhaft deutende Sprache, die echte
Interpretation heranzureichen. Er stellt die Frage, wie sich eine
Interpretation darstellen würde, die dem Lesen entsprechend
wäre, als einer inständigen Öffnung. Hierin
erkennt er auch das Projekt der Dekonstruktion, nämlich der
Selbstoffenlegung des Lesens, seinem eigenen Konstruktionscharakters
gemäß, die in einer Rückgabe der
Anonymität an das Werk mündet, indem das Lesen nur
als Schreiben realisiert werden kann. Ob diese
‚Interpretation’ Blanchots durch De Man, dem von
Blanchot beschriebenen Lesen gerecht wird ist jedoch fraglich, in dem
Maße wie noch immer eine Konstruktion, eine Offenlegung von
Etwas selbstständigem, unangetasteten hinter, oder unterhalb
des Textes vorgestellt wird, das als ein Schreiben zum Erscheinen
gebracht werden kann. Blanchot spricht sich dazu deutlich genug aus
wenn er den Status des Schreibenden zu fassen versucht:
„L’écrivain appartient
à un langage que personne ne parle, qui n’adresse
à personne, qui n’a pas de centre, qui ne
révèle rien. [...] La où il est, seul
parle l’être, - ce qui signifie que la parole ne
parle plus, mais est, mais se voue à la pure
passivité de l’être.“ [S.21
L’espace littéraire]
Wenn also der Schreibende nichts zu entdecken hat, dann kann es nicht
die Aufgabe des Lesers sein nach diesem Wesenszentrum der literarischen
Produktion zu suchen.
Die Erweckung des Lazarus ist als eine Allegorie des Lesens zu
verstehen: „Lazare, veni foras“ . Das Lesen als die
Auferstehung des Geschriebenen zu betrachten, das im Gegensatz zum
Ungelesenen steht, welches Tod auf seine Auferstehung wartet. Tragende
Unterscheidung Blanchots ist diejenige von Livre~Text(Buch) und
Oevre~Werk. Das Werk erscheint durch das Buch hindurch indem es sich
entzieht. Dass es erscheint ist dabei ein problematischer Ausdruck, da
es nicht hervortritt oder zum Vorschein kommt. Es ist kein
„als ob“, oder ein „etwas als
etwas“, das als eine Anlage im Buch auf das Werk hinweist und
hierin einen privilegierten Weg zu den hinter dem Text verborgen
Zeichen freilegte. Für Blanchot ist hier der Wesensunterschied
von wissenschaftlichen und künstlerischem Text evident:
Ersterer spricht sich im Konsens aus, er operiert mit einem im voraus
stabilisierten Zeichen- und Begriffskanon und ist so immer schon
Affirmation eines bestehenden Diskurses, der ein bestimmtes Lesen im
Sinne eines Verstehens anbietet; der künstlerische Text findet
dagegen keinerlei Garantien in der Welt, sein gelesen werden ist nicht
in ein Gitter starrer Signifikanz gebettet, er tritt in die Existenz im
partikulär qualitativen Augenblick seiner Lektüre,
als wäre er nie zuvor gelesen worden, im Bild gesprochen wird
er vom Leser erweckt.
In seiner Erweckung ist es jedoch noch der jeweilig aktuelle Text, das
jeweils aktuelle Lesen, das unumgehbar den Zugang zum Werk als
Schaffensgrund des Textes, als der ursprünglichen Quelle der
Inspiration zu verdecken scheint. Das Werk entzieht sich, es
ist verborgen durch die Evidenz des Buches. Das Bild des Lazarus wird
zum Bild des Grabes Jesu, das durch den Stein, der es
verschließt, im Verborgenen liegt. Das Buch ist der Stein,
der das Grab verschließt, doch hinter demselben wartet die Leere.
Wenn die Präsenz des Werkes somit keine Verfügbarkeit
impliziert, in dem Maße wie das Buch verfügbar ist,
dann ist seine Existenz derjenigen des auferstandenen Lazarus
ähnlich, der weder der Welt der Lebenden noch der Totenwelt
zugehörig ist („du mal obscure“). Das Werk
wie auch Lazarus sind dem Tod und dem Leben gleichzeitig entrissen. Es
ist die Auferstehung des Toten als Toten, durch die die Grenze zwischen
Leben und Tod, also der Tod selbst verloren geht.
Die Erweckung in die Verfügbarkeit findet im Reden/Nennen mit
dem Tod zusammen. Wenn etwas verfügbar wird, erscheint, wird
es als Sein ausgelöscht, obwohl es allererst mit der Rede
auftauchte. In seiner Erscheinung erlischt es, seine Erscheinung ist
das Erlöschen, die Nacht als Ort der Erscheinung.
Das Seiende wird so zum Auferstandenen im Geist, die Auferstehung des
von der Sprache getöteten und in die Idee getretenen. Der
Lazarus der Literatur ist die wirkliche Verwesung des Wirklichen. Der
Lazarus steht für das Werk, wie der Tod als das
Unverfügbare für das Werk steht, welches sich dem
verstehbaren Ganzen des Buches mitsamt der Autorschaft entgegenstellt.
Es ist diese weltlose Existenz, die sich in der Wendung „il y
a“ oder dem „neutre“ in Blanchots
Schriften ausdrückt.
Das Buch wird als Werk erschlossen, nicht in dem es verstanden sondern
indem es gelesen wird. Das Lesen ist nicht als die Freilegung zu
verstehen, die eine Tiefe hinter der Oberfläche des Buches
offen legt, denn hierin wäre das Werk etwas das vom Buch
getrennt, aus ihm herausgelöst werden könnte, es
würde zur Bedeutung, zur Referenz in der Welt der Erscheinung.
Das Buch wird nur dann zum Werk, wenn es als das gelesen wird was
untergehen muss um befreit zu sein und so die Möglichkeit
öffnet den Autor von seiner Stimme zu lösen. Der
Leser will kein Grab öffnen, denn das Grab selbst ist die
Erscheinung seines Inhalts. Buch und Werk sind nur in der es sein bzw.
erscheinen lassenden Lektüre zu trennen. Das Werk manifestiert
sich in der opaken Undurchsichtigkeit des Buches:
„ Tel est la caractère propre de „cette
ouverture“ dont la lecture est faite: ne s’ouvre
que ce qui est mieux fermé ; n’est transparent que
ce qui appartient à la plus grand opacité ; [...]
le passage du monde où tout a plus ou moins de sens,
où il y a obscurité et clarté,
à un espace où , à proprement parler,
rien n’a encore de sens, vers quoi cependant tout ce qui a
sens remonte comme vers son origine.” (l’espace
litteraire S.258)
Die opake Materialität der Sprache, die nicht im Sinn gefasst
werden kann eröffnet dasjenige, was sich nicht sagen
lässt. In der Weise ist das Lesen der Zugang zu dem was gar
nicht geschrieben ist. Hierin spricht sich das „Ja“
die Affirmation des Lesens für Blanchot aus, die die
fundamentale Sprachlichkeit des Textes anerkennt: Eine Lektüre
ist niemals reduktiv, für die Interpretation ist die
Unverständlichkeit das Ende und die Möglichkeit. Sich
auf das Unverstandene einzulassen zeichnet das Lesen als nicht-reduktiv
aus. Die nicht-reduktive Lektüre hält die
Öffnung aufrecht in dem Bestehenlassen der Sprachlichkeit, dem
Aufrechterhalten der Distanz, der nicht Reduzierbarkeit auf ein
Gesagtes.
Die Figur des Unsagbaren im Text ist die
„Katachrese“: Das Buch ist die Katachrese des
Werkes, sein gebrochener Ausdruck, das was sich nicht eigentliche
beschreiben lässt, da sich keine nähere oder
entferntere Ähnlichkeit mehr zur synthetischen Aktion
anbietet. Die Katachrese besteht da wo der Name fehlt, wo kein
eigentlicher Sinn verfügbar war. Der „Tod“
der Sprache also, Katachrese, Leichnam der Worte, der in der Einsamkeit
des Ausdrucks, der Einsamkeit des sich Ausdrückens manifest
wird und in Blanchots Worten die „solitude
essentielle“ ausmacht, den negativen Ausdruck der
Schaffensgewalt des Menschen, deren Ausführungen einen
fundamental-ethischen Charakter annehmen:
„Le Moi solitaire se voit séparé, mais
n’est plus capable de reconnaître dans cette
séparation la condition de son pouvoir, n’est plus
capable d’en faire le moyen de
l’activité et du travail, l’expression
et la vérité qui fondent toute communication
extérieure. [...] le néant est mon pouvoir, que
je puis ne pas être : de là vient
liberté, maîtrise et avenir pour homme.”
(S. 339)
Die Katachrese verweist gleichermaßen fundamental auf den
informellen und konventionellen also propositionalen Charakter der
Sprache, da sie im eigentlichen Sinne „das Sprechen
über“ das Unbekannte, das Paradoxe oder Alogische
ermöglicht. Diesem Mitteilungscharakter der Sprache entgegen
ist die Lektüre, das Lesen, die Katachrese dessen was der Text
zu sein versucht. In der Eröffnung des Bruchs, des Hiatus,
innerhalb der Sprache selbst den die Katachrese andeutet, kann aus der
Sprache die Negation zurückgewonnen werden, in dem sie sich
selbst in der Dunkelheit ihrer Tiefe zeigt: Sprache bedeutet nicht nur
sondern sie ist (als dieser Hiatus), hierin liegt die
Möglichkeit der nicht-informellen Katachrese.
Jedoch bleibt in der Materialität der Sprache etwas opak
Verweisendes übrig: Das Unsagbare ist an der bloßen
Faktizität der Sprache ablesbar aber nicht verstehbar. Hier
endet der Kreis von Sagen und Verstehen. Das Werk erscheint in der
Lektüre als dieser Widerstand des Entzugs von Sinn, dem nur
nachträglich und operativ begegnet werden kann. In dieser
Weise schließt das Verstehen immerschon in dem Maße
das Urteil ein wie es selbiges ermöglicht. Die Distanz von
Lesen und Urteil wird deutlich. Blanchots Ort kann nur der des Lesens
sein, von dem aus er den Anspruch erhebt, dass ein Text das Lesen
zulassen muß, denn es gibt Texte die gegen das Werk in sich
arbeiten. Diese Autoren sind dem Anspruch des Werkes untreu, sie
richten sich an den Verständigen anstatt auf den Leser zu
warten. Texte dieser Art müssen gegen sich selbst gelesen
werden (Bsp. Proust „temps perdu“). Ein zentrales
Merkmal ist hier die Beschreibung der Erfahrung: Die Erinnerung des
Vergangenen als Auflösung der Angst bei
Proust.(‚Vopat’) Die lineare Zeit braucht ein Ziel,
ohne diese religiöse Vorstellung verliert sich das
Gefühl in der Angst, denn Vergangenheit und Gegenwart werden
ausserhalb einer gerichteten universalen Zeit des Fortschritts
ununterscheidbar. Proust ist für Blanchot der Interpret seiner
eigenen Erfahrung, mit dem Anspruch sie zu kontrollieren. Für
Blanchot jedoch ist das Schreiben der Erfahrung ausgesetzt und das
heißt, dass es nur noch ein Schreiben der Erfahrung als
Erfahrung des Schreibens geben kann, welche nicht im operativen
Arrangement eines Schreibens-Über, also eines Überschreibens
der Erfahrung mündet, wie sie in Prousts Meisterung der Zeit
inszeniert ist. In diesem Sinne ist die Trennung von Schreiben und
Beschriebenem aufgehoben.
„Le Temps de recit“, die Zeit der
Erzählung ist die reine Zeit in der N/nichts geschieht, die
Ereignislose Zeit. Den Roman zu lesen bedeutet das
„recit“ in ihm erscheinen zu lassen. Das
„recit“ beginnt an dem Ort wo die Herrschaft endet,
denn die Erzählung ist nicht ein bloßer Bericht
eines Ereignisses der angeeignet und gebraucht werden kann, sondern der
Charakter der Erzählung wird gespürt und ist so das
Ereignis selbst: Das „recit“ geschieht als das, was
es erzählt. Es ist der fundamental erzählerische
Bezug zur Zeitlichkeit (vergl. bspw. Ricoeur, „Temps et
Recit“), der von der Erfahrung der richtungslosen
imaginären Zeit motiviert ist, welche sich im Lesen der
Erzählung aktualisiert: Der Leser hat keinen Standpunkt, sonst
liest er schon nicht mehr.
Es wäre jedoch verfehlt und vorschnell das Lesen und die
Interpretation als Gegensätzliche Begriffe zu
verstehen, als ob sie in einer Beziehung des „Entweder
– Oder“ zueinander ständen, vielmehr
bildet das Lesen, die Erfahrung der Zeitlichkeit der Existenz, die
Erfahrung der Zeit im Allgemeinen überhaupt erst die
hermeneutische Ausgangsposition jedweder Interpretation. Das Lesen
unterläuft somit den Akt der Interpretation und des
Verstehens, als die sich aus der Öffnung zum Geschriebenen
erhebenden, vorgängigen Passivität des Erleidens der
Zeit, welche das Ereignis darstellt, das den grundlegend
erzählerischen Bezug des Menschen zur eigenen Zeitlichkeit
motiviert.
Anmerkung zum Text: Der Schreiber erhebt keinen Anspruch
darauf den Vortrag von Hans-Jost Frey in repräsentativer Weise
wiederzugeben, vielmehr stellte der Vortrag und seine Struktur eine
starke Anregung und Hilfe dar, den Spuren des Gesagten nachzugehen