A Vor der Kenntnis des Übels
Erster Teil – Symptome
Inmitten der Anderen
Ich bin manchmal vonseiten der Menschen, selbst von Unbekannten, Opfer
eines Missverständnisses, einer augenblicklichen Ablehnung,
die mich schließlich verbannt.
Einige finden meine Anwesenheit auf der Erde verdächtig und
ihre feindliche Haltung wirft mich in mein Geheimnis zurück.
Aber nichts begeistert mich mehr als das Missfallen.
Es ist unmöglich, dass sich kein wortloses Gespräch
zwischen zwei Unbekannten ereignet, wenn auf einer Reise der eine vor
dem anderen sitzt und genauso zwischen denjenigen, die spazierengehen
und denjenigen, die sich zufällig begegnen. Der
flüchtige Austausch verbleibt manchmal im Zustand der Unruhe
oder wird durch einen Gesichtsausdruck hervorgerufen, durch eine Geste
des Gefallens oder der vorbeugenden Feindschaft. Wenn einer der beiden
Spaziergänger irgendjemand ist und der andere auch
irgendjemand ist, dann errät man, worum es sich bei ihnen
handelt. Aber dass irgendjemand sich gegenüber von dem
Manischen, dem Besessenen, dem Isolierten hinstellt, der ich bin,
weiß keiner, worum es sich für mich
handelt und wenn ich ihn betrachte, weiß keiner,
welcher Verachtung ich seinerseits ausgesetzt werde, wenn es nicht
einen Menschen auf dieser Erde gibt, der für ebendiese Neugier
geeignet ist und fähig, darauf zu antworten. Aber dieses
Wunder produziert sich mit der Komplizenschaft des Himmels oder der
Hölle, wenn derjenige, der meine fixe Idee teilen
würde, zu meiner Begegnung käme, dann werden wir
für einen Moment glauben, dass die ganze Welt so gebaut sei
wie wir sind und was ist das für ein Fehler ohne davon
abzulassen, in eine außergewöhnliche Wohltat
einzutreten.
Man sollte vor allem mit den Anderen nicht leben als wären sie
andere Teile von einem selbst und es ist genau das, was ich mache.
Wahrscheinlich wäre ich nur in einer Welt möglich, wo
jeder von derselben Verrücktheit verrückt
wäre, wie ich es bin?
Und es ist nichts als zeitweise diese unmögliche Welt, in der
ich mich einsam fühle, als reale zu gestalten, was mich
vernichtet.
Es würde mir reichen, in das Gefühl einzutreten, dass
ich unter den Menschen eine Ausnahme bin, um auf menschliche Weise
gerettet zu sein, weil ich zumindest die Scheinheiligkeit entdeckt
hätte, und es würde mir reichen, die Scheinheiligkeit
als Weisheit anzunehmen, wenn die einzige Weisheit, die ich kennen
könnte, eine lebensfähige Form meiner
Verrücktheit wäre.
Welcher Verrückte würde bereuen, wenn die ganze Welt
so einen Unsinn reden würde wir er? Welcher Sündiger,
dass seine Sünde ein universelles Gesetz darstellt? Die Irren
und diejenigen an ihrer Seite, die entweder dasselbe Laster des
Instinkts teilen oder mit ihnen durch eine mysteriöse
Anziehung verbunden sind, stranden zur selben Stunde an denselben
Orten. Ebenfalls gefallen sich die ehrlichen Menschen nur unter sich.
In einer Welt, die ihre Sünde teilen würde,
wäre nicht mehr der Sünder der Sünder,
sondern der Sünder wäre der ehrliche Mensch und in
einer Welt, die ihr Verrücktsein teilen würde,
wäre nicht mehr der Verrückte der Verrückte,
sondern der Verständige wäre der Verrückte
und der Verstand das Verrückteste überhaupt.
Zeitweise habe ich das Gefühl, in einer Zeitlupe zu leben, am
Rand des Lebens zu sein, ein halbes Phantom. Vielleicht ist es eine
Krankheit, die mich jetzt am Leben erhält, die mich zu dem
jetzigen Zeitpunkt auf einen Schlag lebendiger macht als die anderen.
Meine eigenen Gesten und Worte ängstigen meine Seele, sie
zieht sich zurück und versteckt sich vor mir so weit es geht,
so dass nichts mehr sie zähmen kann.
Zeugnisse von sich an sich
a. Die Wahrheit
Ach wenn man doch nur damit einverstanden sein könnte, was man
denkt! Aber es ist doch so viel einfacher sich zu belügen.
Durch Faulheit oder Feigheit akzeptiert jeder die allgemeinen
Bedingungen, die automatisch Antworten auf seine eigenen
Ängste darstellen.
Wenn du nicht die Erscheinung der Ehre respektierst, wirst du schon
bald nicht mehr die Ehre selbst respektieren, die selbst nur eine
Erscheinung und Form ist.
Diese, welche den mitleidlosen Geschmack der Wahrheit hat,
würde in keiner Form verbleiben, nicht mal in der
Ehrenhaftigkeit selbst, die ebenfalls nur eine Form ist. Er wird
unmerklich, all diese Formen des Leides erleben und es verbleibt nichts
als ein winziger Teil der Größe.
Weiß ich doch, dass mein Leben aus lauter
Widersprüchen besteht, ich möchte sagen, aus sich
widersprechenden Exzessen, die alle Fehler entschuldigen, die der
anderen und die meinigen.
Nichts würde die Leute so sehr überraschen, als wenn
sie erführen, dass sie Komödie spielen und wenn man
ihnen gesagt hat, welche sie spielen, verzeihen sie einem das nicht.
Sie würden es sich selbst nicht eingestehen. Jeder ist ein
Komödiant, aber keiner weiß das von sich auf Anhieb
und welche Art von Komödie überhaupt. Es handelt sich
darum, seine eigene Identität vor sich zu verstecken und es
gibt welche, die bis ans Ende ihrer Tage in der Lüge leben
werden, um erst am Tag des Jüngsten Gerichts in der Wahrheit
zu erwachen.
So stirbt der Mittelmäßige am häufigsten,
ohne mit sich Bekanntschaft gemacht zu haben, da er die Gefahr
vorausahnt. Es gibt keine größere.
Eine königliche Seele kann sich nicht lange davor verstecken,
wer sie ist.
Der Blick richtet sich auf einen selbst, er lässt sich nicht
täuschen und dies geschieht manchmal mitten auf der
Straße oder während eines Gesprächs.
In der Stille und Unbeweglichkeit sitzend, gebe ich vor, mich daran zu
gewöhnen und erahne, dass man daran eine beruhigende Tiefe zu
schmecken bekommt.
Man vergisst sich selbst so leicht, wenn man keine Existenz hat. Man
vergisst bestimmte Fehler so leicht, wenn man der einzige ist, der sie
kennt.
Es gibt diejenigen, die gut sind und diejenigen, die ein Interesse
haben, so zu erscheinen und es sind nicht die ersteren, die als die
besten erscheinen, nicht mal für sich selbst.
Es gibt auch solche, die immer einen schuldigen Gesichtsausdruck haben,
selbst wenn sie schuldig sind. Es ist eine zweite Unschuld.
Nur weil ich das Gesicht eines Übeltäters habe,
heißt das doch noch lange nicht, dass ich keiner bin.
Die Wahrheit, die wir auf einen Schlag erkennen können, ist
ein zu kurzes Zwischenspiel, um sie ausdrücken zu
können.
Nichts ist wahr, nichts ist immer wahr und nichts ist für
längere Zeit wahr. Nichts ist ausreichend lange wahr, damit
wir die Zeit hätten, uns darüber bewusst zu werden.
Der Möglichkeit unterworfen, dass wir mehr oder weniger die
Schraubenmutter der Aufmerksamkeit festzuziehen haben, die Wahrnehmung
der Wahrheit
ist vergänglich, und welche Wahrheit wir auch immer wahrnehmen
mögen, die Ehrlichkeit bleibt eine kostenlose Zumutung.
Zwanghaft zu glauben, man sei wahrheitsgetreu, täuscht man
sich oder belügt sich; auf jeden Fall wird dabei die Wahrheit
verletzt, ist verloren und verpasst.
Im Übrigen spreche ich hier von der Wahrheit über uns
selbst.
Es gibt keine Ehrlichkeit außer in der absoluten
Unabhängigkeit der Seele, aber welche Seele ist schon absolut
frei?
Der Schatten einer Abhängigkeit ist eine schwere Kette. Man
hängt von dem ab, was man weiß und noch mehr von
dem, was man glaubt zu wissen.
Nun verdanken wir dasjenige, was wir wissen, am häufigsten der
interessierten Vorsicht unserer Ältesten und das, was wir
glauben zu wissen, unserem eigenen Mut.
Die Gewissheit über eine bestimmte Grenze hinausgehend, ist
mir so unsympathisch, dass es mich anekelt, sogar zuzugeben, dass ich
sicher bin zu leiden. Zu leben bedeutet nichts anderes als
getäuscht zu sein oder zu täuschen. Man sollte sich
weder an dem einen noch an dem anderen Spiel auch nur mit der
geringsten Gefälligkeit beteiligen.
Oh Freiheit, tragische Fähigkeit sich zu bewegen, nur die Arme
auszustrecken und seinen Blick in die Ferne zu richten, als wenn um
einen herum auf einen Schlag ein riesiger Wald zum Fallen kommt.
Aber das Ansehen der Wahrheit ist dermaßen gesunken, wenn man
dann die Wahrheit ausspricht wird einem unterstellt, man wolle in
Erstaunen versetzen oder gar einen Skandal provozieren. Dem Geist
mangelt es am meisten an der Kühnheit und dem
Fingerspitzengefühl; das eine das andere
ausschließend, sind beide doch notwendig, um die Wahrheit
wahrzunehmen und auszudrücken.
Seine Wahrheit zu entdecken, heißt weder sie zu erahnen, sie
zu streifen, noch sie wie ein Parfum einzuatmen oder eine Erscheinung
zu sehen und dabei zugeben, dass sie unbegreiflich bleibt, es
heißt auch nicht sie so zu verstehen, dass man sie
erklären kann.
Unfreiwillig besessen zu sein, ohne zu wissen, warum, noch wie es
geschah, vom Kopf bis zu den Füßen, vom Nagel der
Zehen und Finger bis zur Haarspitze, von all seinen Sinnen bis zum
Innersten der Seele. Seine Wahrheit entdecken, heißt: nur sie
zu atmen, nur sie zu sehen, nur sie zu hören und zu
fühlen im Berühren aller Dinge.
Seine Wahrheit entdecken, heißt: nur ihr zu gehorchen, sich
nur an sie zu wenden, nur sie herbeizusehnen und zu fürchten,
mit ihr eins zu sein, sowie mit dem Rest der Welt, deren Symbol sie
für jeden einzelnen geworden ist.
Ob diese Wahrheit von einer höheren oder niedrigeren Ordnung
sei und dass sie absolut ’la
Vérité’ sei, spielt keine Rolle,
vorausgesetzt, dass sie einzig die Ihrige oder die Meinige sei und mich
völlig bewohnt. Ob ich sie mir erkläre, spielt
ebenfalls keine Rolle, vorausgesetzt, dass sie mich selbst
erklärt und das Übrige.
Selbst wenn sie nur einen Wert für mich besitzt und sie
bloß für mich zugänglich ist, wichtig ist,
dass sie mir das Wort des Rätsels gibt, dass sie die Art
meiner Gesten bestimmt, dass sie den Takt meiner Schritte vorgibt, dass
sie das Innerste meiner Gedanken erhellt, dass sie meine Worte festigt,
mein Gesicht belebt, meine Tränen steuert, mein
Lächeln regelt, dem unaussprechlichen Schatten meiner Trauer
befiehlt, mich zu bedecken oder mich zu verlassen: sie liefert mich
einer Lust aus, die nur ich kenne und sie ganz allein löst in
mir ’mon plaisir’ aus; dank ihr bin ich auf meiner
Suche nicht mehr verloren, auf der Suche nach meinem Geheimnis, das ich
aufdecke. Und selbst wenn ich der Unglücklichste unter den
Menschen wäre und dies mit meiner Verdammung bezahlen
müsste, ich würde niemanden mir vorziehen wollen; in
der Unmöglichkeit, wo ich auf die Wahrheit verzichten
müsste, ich will sagen, auf diese Erinnerung, auf diese
Emotion oder auf diese Hoffnung, die ich ihr (der Wahrheit) verdanke,
die mich zum einen in meinem Eigensinn bestätigen, in dem
Wesen zu verbleiben, in meinem Wesen und zum anderen für
keinen Preis etwas anderes zu wollen als meine Identität,
meine Einzigartigkeit.
b. Die Poesie
Der schuldige Mensch, wenn seine Verbrechen nicht nachvollziehbar sind,
besitzt eine chiffrierte Sprache, die ihn in Schutz nimmt vor jeglichem
Kontakt mit der Justiz.
Die ganze Freude des Menschen und all sein Ansehen hängt nur
von dem Ziel seines Wunsches ab, dem er sich annähert oder von
dem er sich entfernt, das er uns durch List entweder nahe bringt oder
es von uns entfernt.
Oft weiß man nicht, womit man es auf dem Umweg eines Satzes
zu tun hat. Man streift einen Abgrund, den Abgrund von irgendjemandem.
Er hat Sie in seine besondere Verwirrung, wo Ihre Erfahrung versagt,
durch mysteriöse Wege geleitet und eingeführt. Ihnen
fehlen die Mittel, derer sie bedürfen, um zu richten und sich
zurechtzufinden. Aber es entsteht in ihnen unterschwellig ein
Gespür, das ihnen erlaubt, die Existenz einer neuen Welt zu
vermuten, die zugleich betretbar und verboten. Es liegt Magie in
unserer ganzen Art zu sein und in unserer Art, uns zu demjenigen zu
verhalten, was wir suchen, das wir aber nur tastend und durch
Überraschung erreichen können, liegt ebenfalls Magie.
Aber nur wenn wir uns nicht mit Ungenauigkeiten abfinden
können und wenn wir eine innere Forderung haben, ich will
sagen, es bedarf dazu nicht allein Leidenschaft, sondern auch eine Art
Religion zu erleben.
Zwei Menschen geben demselben Wort nicht exakt denselben Sinn. Je nach
Zusammenhang, je nach der Stellung, die er dem Wort gibt, je
nach dem Gefolge, das er ihm gibt und je nach dem Geheimnis, der
Einsamkeit, dem Schatten oder dem Licht, der Heiterkeit oder Ehrfurcht,
mit dem er es umgibt, verändert er es, stellt es um, entstellt
oder verklärt es; auf jeden Fall hat er es verwandelt.
Auf jedem einzelnen der von mir verwendeten Worte liegt meine gesamte
persönliche Erfahrung und die einzigartige Nuance meiner Seele
löst sich auf und setzt sich wieder zusammen als durchstreifte
es ein einziges Prisma.
Unzählbar sind die Menschen; man kennt nur wenige von ihnen.
Die Tiefgründigsten und Feinfühligsten entziehen
sich: es sind diejenigen, welche eine originelle Art zu fühlen
und zu denken besitzen, sie haben einen Aspekt Gottes, der Anderen oder
von sich selbst entdeckt. Manchmal findet diese
Tiefgründigkeit, diese Feinfühligkeit ihren
Ausdrucksweise: das ist dann ein seltener Zufall, der es uns erlaubt,
unsere eigenen Abgründe zu entdecken.
Ich glaubte, nur das zu empfinden, was man sich auch sagen kann und nun
bemerke ich an mir, dass ich niemals so weit davon entfernt war,
ausdrücken zu können, was ich empfinde.
Und noch schlimmer, dass, was ich über mich
ausdrücken konnte, hat kein Interesse mehr für mich.
Stil: ein Eindruck hat durch einen zu beherrschten Ausdruck seine
Wohlgeformtheit verloren, und durch diese Tat hat der Ausdruck selbst
seinen zündenden und einladenden Charakter, kurz seine
Bestimmung verloren.
Nachts, die Herde schläft am Ende des Stalles und streichelt
sich im Halbschlaf, so wie meine geheimsten Wünsche in meinem
Herzen.
In einem Herbst stürzt ein Kranich auf ein Feld. Ein Bauer
findet ihn und stutzt ihm die Flügel. Im darauf folgenden
Frühling steigt ein anderer Kranich des Schwarms hinunter, um
den Hinterbliebenen mitzunehmen, aber der Unglückliche
zappelnd und da er keine Flügel mehr hat, stirbt auf der Erde
vor Kummer.
Nichts scheint meinem Körper näher zu stehen als
Gräser und Blumen. Bei diesem unpersönlichen Kontakt
erblüht mein Glied am besten. Als befänden sich
derselbe Saft und dieselben Verästelungen in sich und in mir
in einem Gespräch. In Wahrheit betrüge ich meine Frau
nur mit Farnkraut und Stachelsträuchern an denen ich mich
streichle und schneide.
Von der einen Seite des Fensters füttere ich die
Vögel und von der anderen die Katze, die vielleicht die
Vögel anknabbern wird.
Als ich im Sechsten in der rue Gay-Lussac wohnte,
vergegenwärtigte ich mir immer in der Nacht das
Treppenhaus, das mich nach schmerzhaften Abenteuern aufnahm wie eine
Leiter, die ich erklomm; begleitet von Engeln, führten die
letzten Stufen zu den Sternen unter denen ich auf dem Balkon zwischen
den samtenen Armlehnen des kleinen Sessels aus Kirschholz meiner
Großmutter müttelicherseits einschlief.
„Was mich tröstet, dass das Leben und unsere
Einbildungskraft exakt parallel sind und märchenhaft das eine
wie das andere.“
„Dass die Zoologie und die Botanik Gott und dem Menschen
nicht so fremd sind, dass sie uns nicht helfen können, uns und
Gott oft besser kennen zu lernen als selbst durch die Anthropologie und
Theologie.“
„Ich höre nicht auf, ein Buch zu streicheln, dass
ich niemals zu lesen im Stande war, dessen Titel ich jedoch von weitem
verehre: die Theologie der Insekten.“
c. Geheimnisse des Wunsches
Eintreten in den Schatten von sich selber wie ein Blindgeborener in
eine Welt, wo sie zu berühren, den Blick ersetzt. Das
Bewusstsein ist viel eher eine Hand, die herumtastet, als ein Auge.
Man verfolgt ein verstecktes Ziel, das niemand errät und das
einem selbst auch völlig unbekannt ist.
„Ich liebe die Poesie, sagte mir jemand, aber die Poesie
liebt mich nicht.“ Um zu zähmen und sich daran zu
gewöhnen, was man fürchtet und was unvermeidlich ist,
muss man Annäherungen machen. Zuerst arbeitet man lange an
sich, um eine geheime Verletzung in sich zu entdecken, deren Herkunft
man sich nicht erklären kann und man wird sich den Rest seines
Lebens bemühen, sie zu maskieren. Vor aller Augen scheint
jeder ein Ziel zu verfolgen, das alle kennen, aber im Geheimnis
geschieht es, dass man ein ganz anderes verfolgt, dessen sich niemand
bewusst ist, man selbst nur durch einen Unfall und manchmal niemals. Im
Verlauf einer dieser schweren Unfälle, stirbt man und die
Menschen werden erklären wollen, was sie nicht wissen durch
ihr Wissen. Besser noch: jeder verfolgt seine Anliegen, doch das
Schicksal schert sich nicht darum. Das Schicksal nimmt seinen Lauf,
ohne sich um die Anliegen der Menschen zu kümmern. Daher
entstehen ein felsenfestes Missverständnis und eine ewige
Quelle an Fehlern und juristischen Fehlern.
Élise stellt mir manchmal Fragen und ich antworte ihr:
„Ich müsste verrückt sein, um so zu
agieren.“ Aber es ist genau das, was ich gerade mache oder
was ich machen werde.
Zwischen demjenigen, was man aus Gewohnheit tut und demjenigen, was man
gern tun würde, besteht nur ein widersprüchlicher
Zusammenhang. Was man normalerweise tut, ist meistens nicht der
Ausdruck von dem, sondern das Gegenteil dessen, was man eigentlich
möchte.
Der Genuss eines jeden ist nur einem selbst verständlich.
Jeder ist im Geheimnis seines Genusses allein.
Der Genuss eines jeden sollte von nichts und niemandem
abhängen, sondern alles sollte für jeden nur von
seinem Genuss abhängen.
Sicher, nichts sollte für einen Menschen von Interesse sein
als sein Traum, und er müsste im Stande sein, diesen in
irgendeine Wirklichkeit grausam einzusetzen.
Der Traum ist nicht die Ablehnung eines bestimmten Teiles der
Wirklichkeit.
Vor dem Sein und um das Nicht-Sein zum Sein zu passieren, haben wir
unausdrückbar menschliche Erfahrungen gemacht, die wir
zweifelsohne im konfusen, eingehüllten Zustand bewahren; die
Erinnerung, das Zeichen unserer Sehnsüchte.
Wenn ich ein Mörder bin, dann erkenne ich das am Genuss zu
töten. Wenn ich ein Dieb bin, wenn ich ein Ausschweifender
bin, was ist dann meine besondere Ausschweifung für die ich
geboren wurde? Wenn ich ein ehrlicher Mensch bin, erfahre ich das
allein durch meine Beute: das ist das moralisch Gute. Gewisse Leute
gefallen sich weder darin zu töten, noch zu stehlen, noch auf
irgendeine Art Unzucht zu treiben; sie beglücken sich einzig
und allein durch eine universelle Abwesenheit von sich selbst.
Jeder hat seine Sehnsucht, aber er weiß nicht, was er sucht,
bevor er es nicht gefunden hat.
Jeder weiß, was er weiß nur durch Erfahrung.
Es ist meine Sehnsucht, aber ich erkenne sie erst im einzigartigen
Trubel, der sich meiner im Augenblick des Gesuchten
bemächtigt. Wie sollte ich es vorher wissen?
Im Annähern an das Gesuchte, im Annähern an den
Moment und Ort, die mir den Gegenstand meiner Sehnsucht
enthüllen werden, das Erbeben meines ganzen Wesens
bestätigt mich und die Art des Todes, der mich
schlägt, belehrt mich über mein Leben, gibt mir das
Leben, gibt mir den Schlüssel meines Geheimnisses.
Unglück desjenigen, der seine Sehnsucht von sich
abschütteln möchte, um mit ihr in Frieden zu leben.
Bestimmte Menschen haben nicht mal Sehnsüchte. Weder in dieser
noch in der anderen Welt würde sie irgendetwas erregen.
Genauso gut kann man sagen, dass sie gar nicht existieren. Sie haben
keine Bestimmung.
Dann gibt es welche, die niemals Neugier oder Mut besaßen,
das Abenteuer ihrer Sehnsüchte zu versuchen. Sie haben sie
(désir) in sich selbst gehütet, systematisch
verstümmeln oder verwelken lassen und mit falschem Mehl
ernährt. Feigheit oder Weisheit?
Ich sehe einen Mann des Volkes unter meinem Fenster vorbeigehen, der
gerade vom Markt kommt. Eine Einkaufstasche im Arm ist er
ärmlich gekleidet, aber direkt neben ihm an der Bordsteinkante
läuft seine Tochter, ein Mädchen von zehn Jahren, die
wie eine Königin angezogen ist: Stiefel, Pelze, Muff,
Hütchen. Es handelt sich um einen Wochentag. Doch wen
interessiert’s? Der Mann hat Urlaub und möchte es
feierlich. Dank des Püppchens, das an seiner Seite trottet,
haben sich seine Leidenschaften allmählich beruhigt. Als
Gebieterin hat er, seinem Genuss entsprungen, nur seine Tochter und sie
lehrt ihn, aus Liebe zu ihr, von nun ab auf seinen Genuss zu verzichten
und die Regeln des Herzens denen seiner Gelüste vorzuziehen.
Einsamkeit der Gelüste in uns und untereinander: sie treffen
sich so gut wie nie gegenseitig, oft ignorieren sie sich, manchmal
bekämpfen sie sich, manchmal bewirten sie einander. Selten
beherrscht uns eine Lust ganz für sich alleine; von dort
stammt unser Mangel an Lyrik und Genialität.
Wenn jemand alles seinen Gelüsten geopfert hat, dessen
Sehnsucht wird sofort dies von ihm zurückfordern. So wie ein
Geschmack, wie ein erfreulicher Duft, wie ein jeder Analyse sich
sträubender Zauber, wie ein namenloses Bild, nimmt ihn eine
unwiderstehliche Anziehung mit sich und auf dem Gipfel seiner selbst
und am Ende der Hölle, wird er doch niemals erfahren,
wofür er sich verloren hat.
d. Die Träume
Niemand benötigt weniger Schlaf als ich und meines Erachtens
ähnelt der Schlaf einer Farce. Sobald Gäste bei mir
sind, lade ich jeden zum Schlafen ein und wenn dann alle schlafen,
beobachte ich sie einen Augenblick. Nichts ist hässlicher als
diese massakrierten Leute. Ich muss dann sofort verschwinden.
Kann ich schlafen? Der Schlaf flüchtet vor mir und wenn ich
nicht mehr schlafen kann, dann sucht er mich. Dieser Konflikt zwischen
dem Schlaf und mir verpflichtet mich schließlich dazu,
entlang eines Abgrunds zu gehen, der ebenso dem Tod wie dem Wahnsinn
benachbart ist.
Ich zögere nur noch zwischen dem Schlaf und einer ewigen
Schlaflosigkeit; dieser bewusste Zustand von Einschlafphase oder
Halbschlaf ist der Göttlichkeit vollkommen vorzuziehen. Vor
allem dann, wenn sich dieser Zustand (il) von selber einstellt. Der
Traum wird hier mühelos zu einem Übersetzer, einer
Art intimer Sprache: unter dieser Form überrascht man sich
selbst, ich müsste eigentlich sagen, man vertraut sich etwas
an.
Beispielsweise vergegenwärtige ich mir im Schlaf die
Höhe besser als im Wachen. Für sie (altitude) bin ich
im Traum (y) tausendmal empfänglicher. Ich will damit sagen,
dass der Traum sie wirklicher werden lässt als die
Wirklichkeit dazu im Stande wäre. Wer hat gesagt, sich an die
Erscheinung haltend (sich an der Erscheinung orientierend), dass der
Schlaf der Bruder des Todes sei? Der Tod ist zweifelsohne gerade nichts
anderes als die definitive Unmöglichkeit zu schlafen.
Ich bin mir ziemlich sicher, im Traum anzutreffen, was das Leben mir
verweigert hat.
Nachts habe ich eine Wahrnehmung meines Körpers, den ich
normalerweise nicht spüre, also im wachen Zustand. Er stellt
sich mir als eine sich verflüssigende Masse dar und er ist mir
dann sehr vertraut. Die stummen Angriffe quälen mich, ich
weiß sie (attaques) nur in ihm (corps) zu bestimmen: von hier
und dort erheben und lösen sich Flammen mit Schnelligkeit, die
Formen von Gesichtern, Tieren, Pflanzen und Bäumen annehmen,
die mich bewohnen. Diese innere Fauna und Flora verwickelt sich und ich
weiß nicht mehr, wo, wer und was ich bin. Die Hölle
in mir.
Kurzbiographie
Marcel Jouhandeau wurde 1888 geboren und starb 1979. Er studierte unter
anderem an der Sorbonne in Paris. Doch die ersten Gestalten seiner
Bücher waren von den merkwürdigsten Menschen, die
seine Heimatstadt bewohnten, inspiriert. Es hat lange gedauert, bis sie
ihm verzeihen konnten. Maurice Nadeau schreibt über
Jouhandeau, er habe den Instinkt eines Seelenplünderers
gehabt. In seinen Texten lässt er die Menschen in ihrer
vollkommenen Fremdheit auftreten und wendet seinen Blick erst ab, wenn
er ihr bestgehütetes Geheimnis durchbrochen hat. Viele haben
von seinem Werk behauptet, es sei der Kralle des Teufels entsprungen,
denn er ist nicht nur ein realistischer und grausamer Maler, der
menschliche Gesichter wie Schmetterlinge zusammensteckt, sondern auch
befremdliche Individuen sammelt, die er beobachtet, wie sie nach ihrem
Heil rennen oder in ihr Verderben stürzen.
Er wuchs in einem religiösen Umfeld auf, merkte aber schon
bald, dass wenn er dazu bestimmt war, im Glauben zu leben, er auch
gleichzeitig in der Sünde leben müsse.
Originaltitel: De l'abjection, erschienen bei
Gallimard, 1939/2006.