Ich liebe die Poesie

(Auszüge aus De l'abjection)

von Marcel Jouhandeau
übersetzt von Daniel Schierke


A Vor der Kenntnis des Übels
Erster Teil – Symptome



Inmitten der Anderen

Ich bin manchmal vonseiten der Menschen, selbst von Unbekannten, Opfer eines Missverständnisses, einer augenblicklichen Ablehnung, die mich schließlich verbannt.
Einige finden meine Anwesenheit auf der Erde verdächtig und ihre feindliche Haltung wirft mich in mein Geheimnis zurück.
Aber nichts begeistert mich mehr als das Missfallen.

Es ist unmöglich, dass sich kein wortloses Gespräch zwischen zwei Unbekannten ereignet, wenn auf einer Reise der eine vor dem anderen sitzt und genauso zwischen denjenigen, die spazierengehen und denjenigen, die sich zufällig begegnen. Der flüchtige Austausch verbleibt manchmal im Zustand der Unruhe oder wird durch einen Gesichtsausdruck hervorgerufen, durch eine Geste des Gefallens oder der vorbeugenden Feindschaft. Wenn einer der beiden Spaziergänger irgendjemand ist und der andere auch irgendjemand ist, dann errät man, worum es sich bei ihnen handelt. Aber dass irgendjemand sich gegenüber von dem Manischen, dem Besessenen, dem Isolierten hinstellt, der ich bin, weiß keiner, worum es sich für mich handelt  und wenn ich ihn betrachte, weiß keiner, welcher Verachtung ich seinerseits ausgesetzt werde, wenn es nicht einen Menschen auf dieser Erde gibt, der für ebendiese Neugier geeignet ist und fähig, darauf zu antworten. Aber dieses Wunder produziert sich mit der Komplizenschaft des Himmels oder der Hölle, wenn derjenige, der meine fixe Idee teilen würde, zu meiner Begegnung käme, dann werden wir für einen Moment glauben, dass die ganze Welt so gebaut sei wie wir sind und was ist das für ein Fehler ohne davon abzulassen, in eine außergewöhnliche Wohltat einzutreten.

Man sollte vor allem mit den Anderen nicht leben als wären sie andere Teile von einem selbst und es ist genau das, was ich mache.

Wahrscheinlich wäre ich nur in einer Welt möglich, wo jeder von derselben Verrücktheit verrückt wäre, wie ich es bin?
Und es ist nichts als zeitweise diese unmögliche Welt, in der ich mich einsam fühle, als reale zu gestalten, was mich vernichtet.
Es würde mir reichen, in das Gefühl einzutreten, dass ich unter den Menschen eine Ausnahme bin, um auf menschliche Weise gerettet zu sein, weil ich zumindest die Scheinheiligkeit entdeckt hätte, und es würde mir reichen, die Scheinheiligkeit als Weisheit anzunehmen, wenn die einzige Weisheit, die ich kennen könnte, eine lebensfähige Form meiner Verrücktheit wäre.

Welcher Verrückte würde bereuen, wenn die ganze Welt so einen Unsinn reden würde wir er? Welcher Sündiger, dass seine Sünde ein universelles Gesetz darstellt? Die Irren und diejenigen an ihrer Seite, die entweder dasselbe Laster des Instinkts teilen oder mit ihnen durch eine mysteriöse Anziehung verbunden sind, stranden zur selben Stunde an denselben Orten. Ebenfalls gefallen sich die ehrlichen Menschen nur unter sich. In einer Welt, die ihre Sünde teilen würde, wäre nicht mehr der Sünder der Sünder, sondern der Sünder wäre der ehrliche Mensch und in einer Welt, die ihr Verrücktsein teilen würde, wäre nicht mehr der Verrückte der Verrückte, sondern der Verständige wäre der Verrückte und der Verstand das Verrückteste überhaupt.

Zeitweise habe ich das Gefühl, in einer Zeitlupe zu leben, am Rand des Lebens zu sein, ein halbes Phantom. Vielleicht ist es eine Krankheit, die mich jetzt am Leben erhält, die mich zu dem jetzigen Zeitpunkt auf einen Schlag lebendiger macht als die anderen.
Meine eigenen Gesten und Worte ängstigen meine Seele, sie zieht sich zurück und versteckt sich vor mir so weit es geht, so dass nichts mehr sie zähmen kann.


Zeugnisse von sich an sich


a. Die Wahrheit

Ach wenn man doch nur damit einverstanden sein könnte, was man denkt! Aber es ist doch so viel einfacher sich zu belügen. Durch Faulheit oder Feigheit akzeptiert jeder die allgemeinen Bedingungen, die automatisch Antworten auf seine eigenen Ängste darstellen.
Wenn du nicht die Erscheinung der Ehre respektierst, wirst du schon bald nicht mehr die Ehre selbst respektieren, die selbst nur eine Erscheinung und Form ist.
Diese, welche den mitleidlosen Geschmack der Wahrheit hat, würde in keiner Form verbleiben, nicht mal in der Ehrenhaftigkeit selbst, die ebenfalls nur eine Form ist. Er wird unmerklich, all diese Formen des Leides erleben und es verbleibt nichts als ein winziger Teil der Größe.

Weiß ich doch, dass mein Leben aus lauter Widersprüchen besteht, ich möchte sagen, aus sich widersprechenden Exzessen, die alle Fehler entschuldigen, die der anderen und die meinigen.

Nichts würde die Leute so sehr überraschen, als wenn sie erführen, dass sie Komödie spielen und wenn man ihnen gesagt hat, welche sie spielen, verzeihen sie einem das nicht. Sie würden es sich selbst nicht eingestehen. Jeder ist ein Komödiant, aber keiner weiß das von sich auf Anhieb und welche Art von Komödie überhaupt. Es handelt sich darum, seine eigene Identität vor sich zu verstecken und es gibt welche, die bis ans Ende ihrer Tage in der Lüge leben werden, um erst am Tag des Jüngsten Gerichts in der Wahrheit zu erwachen.
So stirbt der Mittelmäßige am häufigsten, ohne mit sich Bekanntschaft gemacht zu haben, da er die Gefahr vorausahnt. Es gibt keine größere.
Eine königliche Seele kann sich nicht lange davor verstecken, wer sie ist.
Der Blick richtet sich auf einen selbst, er lässt sich nicht täuschen und dies geschieht manchmal mitten auf der Straße oder während eines Gesprächs.
In der Stille und Unbeweglichkeit sitzend, gebe ich vor, mich daran zu gewöhnen und erahne, dass man daran eine beruhigende Tiefe zu schmecken bekommt.
Man vergisst sich selbst so leicht, wenn man keine Existenz hat. Man vergisst bestimmte Fehler so leicht, wenn man der einzige ist, der sie kennt.
Es gibt diejenigen, die gut sind und diejenigen, die ein Interesse haben, so zu erscheinen und es sind nicht die ersteren, die als die besten erscheinen, nicht mal für sich selbst.
Es gibt auch solche, die immer einen schuldigen Gesichtsausdruck haben, selbst wenn sie schuldig sind. Es ist eine zweite Unschuld.
Nur weil ich das Gesicht eines Übeltäters habe, heißt das doch noch lange nicht, dass ich keiner bin.

Die Wahrheit, die wir auf einen Schlag erkennen können, ist ein zu kurzes Zwischenspiel, um sie ausdrücken zu können.
Nichts ist wahr, nichts ist immer wahr und nichts ist für längere Zeit wahr. Nichts ist ausreichend lange wahr, damit wir die Zeit hätten, uns darüber bewusst zu werden.
Der Möglichkeit unterworfen, dass wir mehr oder weniger die Schraubenmutter der Aufmerksamkeit festzuziehen haben, die Wahrnehmung der Wahrheit ist vergänglich, und welche Wahrheit wir auch immer wahrnehmen mögen, die Ehrlichkeit bleibt eine kostenlose Zumutung. Zwanghaft zu glauben, man sei wahrheitsgetreu, täuscht man sich oder belügt sich; auf jeden Fall wird dabei die Wahrheit verletzt, ist verloren und verpasst.
Im Übrigen spreche ich hier von der Wahrheit über uns selbst.

Es gibt keine Ehrlichkeit außer in der absoluten Unabhängigkeit der Seele, aber welche Seele ist schon absolut frei?
Der Schatten einer Abhängigkeit ist eine schwere Kette. Man hängt von dem ab, was man weiß und noch mehr von dem, was man glaubt zu wissen.
Nun verdanken wir dasjenige, was wir wissen, am häufigsten der interessierten Vorsicht unserer Ältesten und das, was wir glauben zu wissen, unserem eigenen Mut.

Die Gewissheit über eine bestimmte Grenze hinausgehend, ist mir so unsympathisch, dass es mich anekelt, sogar zuzugeben, dass ich sicher bin zu leiden. Zu leben bedeutet nichts anderes als getäuscht zu sein oder zu täuschen. Man sollte sich weder an dem einen noch an dem anderen Spiel auch nur mit der geringsten Gefälligkeit beteiligen.  

Oh Freiheit, tragische Fähigkeit sich zu bewegen, nur die Arme auszustrecken und seinen Blick in die Ferne zu richten, als wenn um einen herum auf einen Schlag ein riesiger Wald zum Fallen kommt.
Aber das Ansehen der Wahrheit ist dermaßen gesunken, wenn man dann die Wahrheit ausspricht wird einem unterstellt, man wolle in Erstaunen versetzen oder gar einen Skandal provozieren. Dem Geist mangelt es am meisten an der Kühnheit und dem Fingerspitzengefühl; das eine das andere ausschließend, sind beide doch notwendig, um die Wahrheit wahrzunehmen und auszudrücken.

Seine Wahrheit zu entdecken, heißt weder sie zu erahnen, sie zu streifen, noch sie wie ein Parfum einzuatmen oder eine Erscheinung zu sehen und dabei zugeben, dass sie unbegreiflich bleibt, es heißt auch nicht sie so zu verstehen, dass man sie erklären kann.
Unfreiwillig besessen zu sein, ohne zu wissen, warum, noch wie es geschah, vom Kopf bis zu den Füßen, vom Nagel der Zehen und Finger bis zur Haarspitze, von all seinen Sinnen bis zum Innersten der Seele. Seine Wahrheit entdecken, heißt: nur sie zu atmen, nur sie zu sehen, nur sie zu hören und zu fühlen im Berühren aller Dinge.
Seine Wahrheit entdecken, heißt: nur ihr zu gehorchen, sich nur an sie zu wenden, nur sie herbeizusehnen und zu fürchten, mit ihr eins zu sein, sowie mit dem Rest der Welt, deren Symbol sie für jeden einzelnen geworden ist.
Ob diese Wahrheit von einer höheren oder niedrigeren Ordnung sei und dass sie absolut ’la Vérité’ sei, spielt keine Rolle, vorausgesetzt, dass sie einzig die Ihrige oder die Meinige sei und mich völlig bewohnt. Ob ich sie mir erkläre, spielt ebenfalls keine Rolle, vorausgesetzt, dass sie mich selbst erklärt und das Übrige.
Selbst wenn sie nur einen Wert für mich besitzt und sie bloß für mich zugänglich ist, wichtig ist, dass sie mir das Wort des Rätsels gibt, dass sie die Art meiner Gesten bestimmt, dass sie den Takt meiner Schritte vorgibt, dass sie das Innerste meiner Gedanken erhellt, dass sie meine Worte festigt, mein Gesicht belebt, meine Tränen steuert, mein Lächeln regelt, dem unaussprechlichen Schatten meiner Trauer befiehlt, mich zu bedecken oder mich zu verlassen: sie liefert mich einer Lust aus, die nur ich kenne und sie ganz allein löst in mir ’mon plaisir’ aus; dank ihr bin ich auf meiner Suche nicht mehr verloren, auf der Suche nach meinem Geheimnis, das ich aufdecke. Und selbst wenn ich der Unglücklichste unter den Menschen wäre und dies mit meiner Verdammung bezahlen müsste, ich würde niemanden mir vorziehen wollen; in der Unmöglichkeit, wo ich auf die Wahrheit verzichten müsste, ich will sagen, auf diese Erinnerung, auf diese Emotion oder auf diese Hoffnung, die ich ihr (der Wahrheit) verdanke, die mich zum einen in meinem Eigensinn bestätigen, in dem Wesen zu verbleiben, in meinem Wesen und zum anderen für keinen Preis etwas anderes zu wollen als meine Identität, meine Einzigartigkeit.


b. Die Poesie

Der schuldige Mensch, wenn seine Verbrechen nicht nachvollziehbar sind, besitzt eine chiffrierte Sprache, die ihn in Schutz nimmt vor jeglichem Kontakt mit der Justiz.

Die ganze Freude des Menschen und all sein Ansehen hängt nur von dem Ziel seines Wunsches ab, dem er sich annähert oder von dem er sich entfernt, das er uns durch List entweder nahe bringt oder es von uns entfernt.

Oft weiß man nicht, womit man es auf dem Umweg eines Satzes zu tun hat. Man streift einen Abgrund, den Abgrund von irgendjemandem. Er hat Sie in seine besondere Verwirrung, wo Ihre Erfahrung versagt, durch mysteriöse Wege geleitet und eingeführt. Ihnen fehlen die Mittel, derer sie bedürfen, um zu richten und sich zurechtzufinden. Aber es entsteht in  ihnen unterschwellig ein Gespür, das ihnen erlaubt, die Existenz einer neuen Welt zu vermuten, die zugleich betretbar und verboten. Es liegt Magie in unserer ganzen Art zu sein und in unserer Art, uns zu demjenigen zu verhalten, was wir suchen, das wir aber nur tastend und durch Überraschung erreichen können, liegt ebenfalls Magie. Aber nur wenn wir uns nicht mit Ungenauigkeiten abfinden können und wenn wir eine innere Forderung haben, ich will sagen, es bedarf dazu nicht allein Leidenschaft, sondern auch eine Art Religion zu erleben.
Zwei Menschen geben demselben Wort nicht exakt denselben Sinn. Je nach Zusammenhang, je nach der Stellung, die er dem  Wort gibt, je nach dem Gefolge, das er ihm gibt und je nach dem Geheimnis, der Einsamkeit, dem Schatten oder dem Licht, der Heiterkeit oder Ehrfurcht, mit dem er es umgibt, verändert er es, stellt es um, entstellt oder verklärt es; auf jeden Fall hat er es verwandelt.

Auf jedem einzelnen der von mir verwendeten Worte liegt meine gesamte persönliche Erfahrung und die einzigartige Nuance meiner Seele löst sich auf und setzt sich wieder zusammen als durchstreifte es ein einziges Prisma.

Unzählbar sind die Menschen; man kennt nur wenige von ihnen. Die Tiefgründigsten und Feinfühligsten entziehen sich: es sind diejenigen, welche eine originelle Art zu fühlen und zu denken besitzen, sie haben einen Aspekt Gottes, der Anderen oder von sich selbst entdeckt. Manchmal findet diese Tiefgründigkeit, diese Feinfühligkeit ihren Ausdrucksweise: das ist dann ein seltener Zufall, der es uns erlaubt, unsere eigenen Abgründe zu entdecken.

Ich glaubte, nur das zu empfinden, was man sich auch sagen kann und nun bemerke ich an mir, dass ich niemals so weit davon entfernt war, ausdrücken zu können, was ich empfinde.

Und noch schlimmer, dass, was ich über mich ausdrücken konnte, hat kein Interesse mehr für mich.

Stil: ein Eindruck hat durch einen zu beherrschten Ausdruck seine Wohlgeformtheit verloren, und durch diese Tat hat der Ausdruck selbst seinen zündenden und einladenden Charakter, kurz seine Bestimmung verloren.

Nachts, die Herde schläft am Ende des Stalles und streichelt sich im Halbschlaf, so wie meine geheimsten Wünsche in meinem Herzen.

In einem Herbst stürzt ein Kranich auf ein Feld. Ein Bauer findet ihn und stutzt ihm die Flügel. Im darauf folgenden Frühling steigt ein anderer Kranich des Schwarms hinunter, um den Hinterbliebenen mitzunehmen, aber der Unglückliche zappelnd und da er keine Flügel mehr hat, stirbt auf der Erde vor Kummer.

Nichts scheint meinem Körper näher zu stehen als Gräser und Blumen. Bei diesem unpersönlichen Kontakt erblüht mein Glied am besten. Als befänden sich derselbe Saft und dieselben Verästelungen in sich und in mir in einem Gespräch. In Wahrheit betrüge ich meine Frau nur mit Farnkraut und Stachelsträuchern an denen ich mich streichle und schneide.

Von der einen Seite des Fensters füttere ich die Vögel und von der anderen die Katze, die vielleicht die Vögel anknabbern wird.  

Als ich im Sechsten in der rue Gay-Lussac wohnte, vergegenwärtigte ich mir immer in der  Nacht das Treppenhaus, das mich nach schmerzhaften Abenteuern aufnahm wie eine Leiter, die ich erklomm; begleitet von Engeln, führten die letzten Stufen zu den Sternen unter denen ich auf dem Balkon zwischen den samtenen Armlehnen des kleinen Sessels aus Kirschholz meiner Großmutter müttelicherseits einschlief.

„Was mich tröstet, dass das Leben und unsere Einbildungskraft exakt parallel sind und märchenhaft das eine wie das andere.“

„Dass die Zoologie und die Botanik Gott und dem Menschen nicht so fremd sind, dass sie uns nicht helfen können, uns und Gott oft besser kennen zu lernen als selbst durch die Anthropologie und Theologie.“

„Ich höre nicht auf, ein Buch zu streicheln, dass ich niemals zu lesen im Stande war, dessen Titel ich jedoch von weitem verehre: die Theologie der Insekten.“


c. Geheimnisse des Wunsches

Eintreten in den Schatten von sich selber wie ein Blindgeborener in eine Welt, wo sie zu berühren, den Blick ersetzt. Das Bewusstsein ist viel eher eine Hand, die herumtastet, als ein Auge.

Man verfolgt ein verstecktes Ziel, das niemand errät und das einem selbst auch völlig unbekannt ist.

„Ich liebe die Poesie, sagte mir jemand, aber die Poesie liebt mich nicht.“ Um zu zähmen und sich daran zu gewöhnen, was man fürchtet und was unvermeidlich ist, muss man Annäherungen machen. Zuerst arbeitet man lange an sich, um eine geheime Verletzung in sich zu entdecken, deren Herkunft man sich nicht erklären kann und man wird sich den Rest seines Lebens bemühen, sie zu maskieren. Vor aller Augen scheint jeder ein Ziel zu verfolgen, das alle kennen, aber im Geheimnis geschieht es, dass man ein ganz anderes verfolgt, dessen sich niemand bewusst ist, man selbst nur durch einen Unfall und manchmal niemals. Im Verlauf einer dieser schweren Unfälle, stirbt man und die Menschen werden erklären wollen, was sie nicht wissen durch ihr Wissen. Besser noch: jeder verfolgt seine Anliegen, doch das Schicksal schert sich nicht darum. Das Schicksal nimmt seinen Lauf, ohne sich um die Anliegen der Menschen zu kümmern. Daher entstehen ein felsenfestes Missverständnis und eine ewige Quelle an Fehlern und juristischen Fehlern.
Élise stellt mir manchmal Fragen und ich antworte ihr: „Ich müsste verrückt sein, um so zu agieren.“ Aber es ist genau das, was ich gerade mache oder was ich machen werde.
Zwischen demjenigen, was man aus Gewohnheit tut und demjenigen, was man gern tun würde, besteht nur ein widersprüchlicher Zusammenhang. Was man normalerweise tut, ist meistens nicht der Ausdruck von dem, sondern das Gegenteil dessen, was man eigentlich möchte.

Der Genuss eines jeden ist nur einem selbst verständlich. Jeder ist im Geheimnis seines Genusses allein.
Der Genuss eines jeden sollte von nichts und niemandem abhängen, sondern alles sollte für jeden nur von seinem Genuss abhängen.
Sicher, nichts sollte für einen Menschen von Interesse sein als sein Traum, und er müsste im Stande sein, diesen in irgendeine Wirklichkeit grausam einzusetzen.
Der Traum ist nicht die Ablehnung eines bestimmten Teiles der Wirklichkeit.

Vor dem Sein und um das Nicht-Sein zum Sein zu passieren, haben wir unausdrückbar menschliche Erfahrungen gemacht, die wir zweifelsohne im konfusen, eingehüllten Zustand bewahren; die Erinnerung, das Zeichen unserer Sehnsüchte.

Wenn ich ein Mörder bin, dann erkenne ich das am Genuss zu töten. Wenn ich ein Dieb bin, wenn ich ein Ausschweifender bin, was ist dann meine besondere Ausschweifung für die ich geboren wurde? Wenn ich ein ehrlicher Mensch bin, erfahre ich das allein durch meine Beute: das ist das moralisch Gute. Gewisse Leute gefallen sich weder darin zu töten, noch zu stehlen, noch auf irgendeine Art Unzucht zu treiben; sie beglücken sich einzig und allein durch eine universelle Abwesenheit von sich selbst.


Jeder hat seine Sehnsucht, aber er weiß nicht, was er sucht, bevor er es nicht gefunden hat.
Jeder weiß, was er weiß nur durch Erfahrung.
Es ist meine Sehnsucht, aber ich erkenne sie erst im einzigartigen Trubel, der sich meiner im Augenblick des Gesuchten bemächtigt. Wie sollte ich es vorher wissen?

Im Annähern an das Gesuchte, im Annähern an den Moment und Ort, die mir den Gegenstand meiner Sehnsucht enthüllen werden, das Erbeben meines ganzen Wesens bestätigt mich und die Art des Todes, der mich schlägt, belehrt mich über mein Leben, gibt mir das Leben, gibt mir den Schlüssel meines Geheimnisses.

Unglück desjenigen, der seine Sehnsucht von sich abschütteln möchte, um mit ihr in Frieden zu leben. Bestimmte Menschen haben nicht mal Sehnsüchte. Weder in dieser noch in der anderen Welt würde sie irgendetwas erregen. Genauso gut kann man sagen, dass sie gar nicht existieren. Sie haben keine Bestimmung.
Dann gibt es welche, die niemals Neugier oder Mut besaßen, das Abenteuer ihrer Sehnsüchte zu versuchen. Sie haben sie (désir) in sich selbst gehütet, systematisch verstümmeln oder verwelken lassen und mit falschem Mehl ernährt. Feigheit oder Weisheit?

Ich sehe einen Mann des Volkes unter meinem Fenster vorbeigehen, der gerade vom Markt kommt. Eine Einkaufstasche im Arm ist er ärmlich gekleidet, aber direkt neben ihm an der Bordsteinkante läuft seine Tochter, ein Mädchen von zehn Jahren, die wie eine Königin angezogen ist: Stiefel, Pelze, Muff, Hütchen. Es handelt sich um einen Wochentag. Doch wen interessiert’s? Der Mann hat Urlaub und möchte es feierlich. Dank des Püppchens, das an seiner Seite trottet, haben sich seine Leidenschaften allmählich beruhigt. Als Gebieterin hat er, seinem Genuss entsprungen, nur seine Tochter und sie lehrt ihn, aus Liebe zu ihr, von nun ab auf seinen Genuss zu verzichten und die Regeln des Herzens denen seiner Gelüste vorzuziehen.

Einsamkeit der Gelüste in uns und untereinander: sie treffen sich so gut wie nie gegenseitig, oft ignorieren sie sich, manchmal bekämpfen sie sich, manchmal bewirten sie einander. Selten beherrscht uns eine Lust ganz für sich alleine; von dort stammt unser Mangel an Lyrik und Genialität.

Wenn jemand alles seinen Gelüsten geopfert hat, dessen Sehnsucht wird sofort dies von ihm zurückfordern. So wie ein Geschmack, wie ein erfreulicher Duft, wie ein jeder Analyse sich sträubender Zauber, wie ein namenloses Bild, nimmt ihn eine unwiderstehliche Anziehung mit sich und auf dem Gipfel seiner selbst und am Ende der Hölle, wird er doch niemals erfahren, wofür er sich verloren hat.  


d. Die Träume

Niemand benötigt weniger Schlaf als ich und meines Erachtens ähnelt der Schlaf einer Farce. Sobald Gäste bei mir sind, lade ich jeden zum Schlafen ein und wenn dann alle schlafen, beobachte ich sie einen Augenblick. Nichts ist hässlicher als diese massakrierten Leute. Ich muss dann sofort verschwinden.

Kann ich schlafen? Der Schlaf flüchtet vor mir und wenn ich nicht mehr schlafen kann, dann sucht er mich. Dieser Konflikt zwischen dem Schlaf und mir verpflichtet mich schließlich dazu, entlang eines Abgrunds zu gehen, der ebenso dem Tod wie dem Wahnsinn benachbart ist.
Ich zögere nur noch zwischen dem Schlaf und einer ewigen Schlaflosigkeit; dieser bewusste Zustand von Einschlafphase oder Halbschlaf ist der Göttlichkeit vollkommen vorzuziehen. Vor allem dann, wenn sich dieser Zustand (il) von selber einstellt. Der Traum wird hier mühelos zu einem Übersetzer, einer Art intimer Sprache: unter dieser Form überrascht man sich selbst, ich müsste eigentlich sagen, man vertraut sich etwas an.
Beispielsweise vergegenwärtige ich mir im Schlaf die Höhe besser als im Wachen. Für sie (altitude) bin ich im Traum (y) tausendmal empfänglicher. Ich will damit sagen, dass der Traum sie wirklicher werden lässt als die Wirklichkeit dazu im Stande wäre. Wer hat gesagt, sich an die Erscheinung haltend (sich an der Erscheinung orientierend), dass der Schlaf der Bruder des Todes sei? Der Tod ist zweifelsohne gerade nichts anderes als die definitive Unmöglichkeit zu schlafen.
Ich bin mir ziemlich sicher, im Traum anzutreffen, was das Leben mir verweigert hat.
Nachts habe ich eine Wahrnehmung meines Körpers, den ich normalerweise nicht spüre, also im wachen Zustand. Er stellt sich mir als eine sich verflüssigende Masse dar und er ist mir dann sehr vertraut. Die stummen Angriffe quälen mich, ich weiß sie (attaques) nur in ihm (corps) zu bestimmen: von hier und dort erheben und lösen sich Flammen mit Schnelligkeit, die Formen von Gesichtern, Tieren, Pflanzen und Bäumen annehmen, die mich bewohnen. Diese innere Fauna und Flora verwickelt sich und ich weiß nicht mehr, wo, wer und was ich bin. Die Hölle in mir.

Kurzbiographie

Marcel Jouhandeau wurde 1888 geboren und starb 1979. Er studierte unter anderem an der Sorbonne in Paris. Doch die ersten Gestalten seiner Bücher waren von den merkwürdigsten Menschen, die seine Heimatstadt bewohnten, inspiriert. Es hat lange gedauert, bis sie ihm verzeihen konnten. Maurice Nadeau schreibt über Jouhandeau, er habe den Instinkt eines Seelenplünderers gehabt. In seinen Texten lässt er die Menschen in ihrer vollkommenen Fremdheit auftreten und wendet seinen Blick erst ab, wenn er ihr bestgehütetes Geheimnis durchbrochen hat. Viele haben von seinem Werk behauptet, es sei der Kralle des Teufels entsprungen, denn er ist nicht nur ein realistischer und grausamer Maler, der menschliche Gesichter wie Schmetterlinge zusammensteckt, sondern auch befremdliche Individuen sammelt, die er beobachtet, wie sie nach ihrem Heil rennen oder in ihr Verderben stürzen.
Er wuchs in einem religiösen Umfeld auf, merkte aber schon bald, dass wenn er dazu bestimmt war, im Glauben zu leben, er auch gleichzeitig in der Sünde leben müsse.

Originaltitel: De l'abjection, erschienen bei Gallimard, 1939/2006.